Über einen nahezu fulminanten „Rigoletto“ in Luzern und davon, dass Regisseure/Regisseurinnen ihre Arbeit in Programmheften eher nicht erläutern sollten
Hector Sandoval, der Sänger des Duca, ist verkühlt an diesem Abend des Faschingssamstags, er singt dennoch, mit viel Kraft gegen die Beeinträchtigung der Stimme, so mangelt die Leichtigkeit, was sich aufs Spielen auswirkt, naturgemäß, man will sichs vorstellen, wie das, was an diesem Abend gestemmt werden muss, ansonsten fließt, aber man begreift auch (bei aller Bewunderung für Herrn Sandoval), wie sehr ein Meisterwerk des Dramatischen wie der „Rigoletto“ angewiesen ist auf Balance und also auf ein Gelingen auf allen Ebenen.
Zumal ansonsten niemand verkühlt, das Ensemble samt Chor erwartungsgemäß hervorragend ist, Gregor Dalal ein kraftvoll-intensiver Rigoletto, und diese Aufführung mit Jutta Böhnert eine in Gesang und Spiel wunderbare, zutiefst berührende Gilda vorzuweisen hat.
Die von einer Regisseurin, Vera Nemirova, inszeniert ist, die das sogenannte Regie-Theater in seiner aktuellen Form (das durch Anmaßung charakterisiert ist), hinter sich lässt, ohne auf Überspitzungen und Aktualisierungen zu verzichten, welche sie jedoch völlig uneitel dem Bogen der Geschichte zu deren Nutzen einfügt, im übrigen hoch-konzentriert auf das, was in und zwischen den Figuren stattfindet, was sie mit Könnerschaft nicht nur organisiert. So hat sich der Irrtum der Regie-Besetzungsstrategien im deutschsprachigen Theater, der den Assistenten und Assistentinnen der Meisterregisseure (wie Ruth Berghaus, Peter Konwitschny, Luc Bondy, Frank Castorf und Christoph Marthaler, etc.) ganz selbstverständlich Chancen um Chancen einräumt, die sie großteils nicht nutzen können (wie denn auch, Können färbt nicht ab und ist nicht einfach über den Vermittlungsweg zu entwickeln), in Luzern für mich schon zum zweiten Mal (nach der Taubenhain-Regisseurin Christina Rast) als kein solcher herausgestellt. Glückwunsch.

Vera Nemirova skizziert allerdings im Programmheft ihre Auffassung unter der Überschrift „Wo Leben Zwang bedeutet, wird der Tod zur Befreiung“. Das hat sie zwar dann, sich einlassend auf ihr Ensemble und die Geschichte im Detail, nicht inszeniert, aber es beeinträchtigt den Schluss der Aufführung, wo nicht etwa der wohl geplante „schöne Tod“, sondern gar kein Tod inszeniert ist. Und schon der Mord als sexueller Akt ist eine Entgleisung: zwar ist Gildas Opfertod in seinem Heroismus und seiner Lächerlichkeit, insofern sie dabei Hingabe mit Selbstaufgabe verwechselt, auf den Geliebten bezogen und so ein im Ansatz leidenschaftlicher Akt, aber sie zwischen ihren Mörder und seine Schwester einzuklemmen und drei Körper und ein Messer in rhythmischer Bewegung des Geschlechtsverkehrs zu zeigen, wäre ein plötzlich zynischer Blick der Regisseurin auf Gilda, der im Übrigen jedoch ihre ganze Zuneigung, wie die des Publikums, gilt.
Nun ist der „Rigoletto“ ja überhaupt nicht etwa ein Drama über Zwänge, sondern über Kontrolle. Dass dabei Zwänge im Spiel sind, versteht sich. Aber Verdi/Piave fragen nach den Tätern und danach, wie aus Opfern Täter werden, und konzedieren den Tätern, was ja inzwischen in jedem Kriminalpsychologiebuch nachzulesen ist, dass sie auch Opfer sind, ohne sie deshalb aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Insofern auch ein Drama über Schuld und Unschuld, und zwar sowohl in klugem als auch grässlich banalem Zugriff: so einerseits Rigoletto, der in dem Augenblick, in dem er mit dem Mordplan den letzten Rest seiner Unschuld (Integrität) aufgibt und sich engültig auf die selbe Stufe wie sein Peiniger, der Duca, dem er in Hass und Selbstverachtung zutiefst verbunden ist, stellt, selbst endgültig und ausweglos schuldig wird; andererseits Gilda, die, wie in einem Hollywood-Melodram, in der Selbstaufgabe, in ihrem Opfertod, ihre Unschuld, die sie ans eigene und das Begehren des Verführers verloren hat, sich wiedererobert. So schlimm so katholisch. Denn das ist ein frommer Wunsch, so im Programmheft niedergelegt, dass Verdi eine „zynisch-eitle Männergesellschaft“ charakterisiere, in der Frauen nur als Huren oder Heilige figurierten: Verdi charakterisiert eine zynisch-eitle Adelsgesellschaft (und Ausstattung und Rituale verweisen, diesbezüglich ganz richtig, mehr auf die feudale Struktur einer Mafia-Gesellschaft, denn auf eine etwa heutige bürgerliche Spaßgesellschaft) ganz aus der Perspektive einer bürgerlichen Moralität, wenn auch durchaus ohne deren Bigotterien; aber dem Vorwurf, Frauen nur in der Unterscheidung Hure/Heilige wahrzunehmen, verfällt er selbst. Dass nun diese Männerprojektion Gilda mehr ist als eine solche und auch was anderes als die Reproduktion der blinden Flecken einer Männergesellschaft, die immer Kontrolle meint, wenn sie Liebe sagt: man will es es sich so wünschen.
Gewiss ist, dass in weiblicher Sozialisation diese Verwechslung von Hingabe (die sich auf Liebespartner oder auch Aufgaben beziehen mag und, selbstbestimmt, keinesfalls auf Selbstverlust aus ist) mit Selbstaufgabe (als Unterwerfung, die sich das Risiko, aber auch die Freiheit eines selbstbestimmtes Leben nicht zutrauen mag), auch heute noch eine große Rolle spielt, selbst im Widerstreit als Umkehrung (indem die Sinnlichkeit, als vermeintlich direkter Pfad zur Unterwerfung und um dieser zu entgehen, unterdrückt wird). Insofern ist uns die Figur der Gilda unmittelbar vertraut, nicht nur im Vater-Tochter-Verhältnis, sondern bezüglich ihrer Entscheidung, „zu sehr zu lieben“ und ihre Selbstaufopferung als Ausdruck von Liebe misszuverstehen.

Frau Nemirova nun, die alles zu wissen scheint über Kontrolle, Kontrollverlust, ein im Tiefsten durchaus inzestuöses Kontrollverhältnis von besitzergreifenden Vätern zu ihren Töchtern, und von deren Schuldgefühlen, weil sie, domestiziert, das eigene Begehren und die Selbstbefreiung, noch während sie darauf bestehen, als Verrat begreifen; die alles zu wissen scheint darüber, aus welchen Ängsten Zynismus entsteht und so nicht das Begehren denunziert, sondern den Hass, der sich dafür hält, schreibt allen Ernstes im Programmheft, „erst durch den Tod können sich Vater und Tochter auf menschlicher Basis begegnen“ und dass „der Tod in dieser Oper die erste Chance eines menschlichen Seins“ sei. Und das in Bezug auf eine Arbeit, in der mit großer Genauigkeit Menschen dargestellt werden, die, selbst im operngemäß ritualisiertesten Moment, von realistischer Lebendigkeit sind: was denn noch menschlicher als Menschen als Menschen in einem Leben, das, so oder so, ein Risiko ist? Und Rigolettos Verhältnis zu Gilda, so schief und krank es sein mag, wieso irgend könnte es menschlicher werden, indem sie stirbt? Schlimmer: würd sie mit ihrem Liebhaber durchbrennen, würd er sie hassen; indem sie stirbt, kriegt er seine Tragödie. Die Harmonie im Tode? Mit einem Bauchstich krepiert man elendiglich. Und wenn mans überstanden hat, tut einem nichts mehr weh, heißt es. Das Leben auf den Tod hin? Der Tod als Meister des Lebens? Zu solcher Todesphilosophie, die ja die Philosophie- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts pompös durchzieht, fällt mir dann immer nur jener Rabbi ein, der sagt: Natürlich ist es besser, nicht geboren zu werden, aber wer hat schon das Glück.
Hätte Vera Nemirova nun nicht sich erklärt im Programmheft, hätte ich angenommen, dass sie sich vor der Todesszene drückt und/oder die Katharsis, die auf der Hand liegt, nicht hergeben will/kann. Aber eigentlich nehme ich das auch so an, obwohl ich jetzt weiß, dass etwas zwischen Apokalypse und Apotheose gemeint ist, das nicht stattfindet, und ein schöner Tod, der schon allein deswegen nicht stattfinden kann, weils einen schönen Tod, den Traum aller Selbstmörder, nicht gibt.
Ein toller Abend. Dennoch. Auf einer Bühne, die Werner Hutterli (ein Glücksfall als Bühnenbildner) gestaltet hat, in schön entsprechenden Kostümen von Marie-Luise Strandt. Profund musiziert vom Luzerner Sinfonieorchester, das John Axelrod leitet (dem ich, um seinen Programmheftbeitrag nicht unerwähnt zu lassen, zwar recht gebe, dass „die Liebe das beste Heilmittel“ gegen einen „Fluch“ ist, aber nicht weiß, inwieweit sich das irgend auf diese Oper, die er so hervorragend dirigiert, beziehen könnte – womit zuletzt endgültig klar wird, dass ich wohl zukünftig das Programmheft-Lesen über die Besetzungsseiten hinaus bleiben lassen sollte).
In stillen Stellen manchmal das Hereinwehen der Fassnacht-Trommler und -Bläser, die Luzern in diesen Tagen mit ihren magischen Ritualen über- und durchziehen. Beim ersten Mal durchs Publikum ein leises, leichtes Schmunzeln, was, so mein Empfinden, dieses Publikum wieder einmal als eins der besten in, sagen wir, Europa ausweist. Die Sängerinnen und Sänger, wohl gestört, ließen sich nicht stören.