Als Luzern-Tourist, der man ja bleibt, auch wenn man sich oft aufhält und wohlfühlt in dieser, für Kleinstädte untypischen, sehr offenen Stadt am Vierwaldstätter-See, heißt auch: an dessen Ausfluss, der Reuss, naturgemäß auch Kulturtourist, etwa beim Lucerne-Festival. Übers Jahr bleibt einem solchen vor allem, ins Theater zu gehen.

Elf Produktionen besichtigt in der jüngst vergangenen Spielzeit, immerhin. Wobei beim Auflisten die Tatsache, dass ich mehr Musiktheater als Sprechtheater gesehen, mich ziemlich erstaunt hat; ausschlaggebend allerdings auch terminliche Gründe, denn die „Traumspiele“, „Mercedes“, „Pylades“ hatte ich anzusehen geplant sowie selbstverständlich die playstation-Produktion, und bin so vermutlich, man weiß es nicht, um ein paar Hymnen, die ich gern gesungen hätte, umgefallen. Seis drum. Es gibt auch so Hymnen genug, mehr als erwartet: die neue Mannschaft hat einen feinen Job gemacht in dieser ihrer ersten Spielzeit, und auch vom Publikum honoriert und selbst vom sogenannten Feuilleton akklamiert.
Wobei vor allem die Ensemble-Hymne zu singen ist, bei dem es im Grundsätzlichen nichts einzuwenden gibt, weder beim Gesangs-, noch beim Sprech-Ensemble und schon gar nicht bei der Tanz-Compagnie, die nicht nur wunderbar bei den eigentlichen Tanztheater-Aufführungen, sondern auch ein Hochgenuss, wenn ihre Mitglieder in Musik- oder Sprechtheater-Produktionen auftauchen, so im Grafen von Luxemburg als Servierpersonal, im E.T.A-Hoffmann-Projekt eine der Tänzerinnen oder in Dido und Aenes drei in kurzen Röcken.
Und selbstverständlich genießt man den Anblick dieser durchtrainierten Haxen (= Beine) und darf sich entscheiden, ob diese oder die der rund 20 Teenager des MSL Mädchenchores inVOICE, die hier die Insassinnen eines englischen Mädchenpensionates verkörpern, einem besser gefallen. Knusprig, möchte man sagen, wenn diese Teenager-Beine ausführlichst ausgestellt werden, wobei man annimmt, dass die Inszenierung – pädagogisch – dem Publikum einen voyeuristischen Blick aufzwingt oder – gegen eine political-correctness-Hysterie – darauf besteht, die durchaus auch erotische Schönheit junger Mädchen als solche zeigen zu dürfen, denn einem so geschmackssicheren Regisseur wie Stephan Müller wird man kaum unterstellen dürfen, dass ihm diese durchaus unordinäre aber doch ein wenig exhibitionistische, also leicht obszöne Beine-Darbietung einfach nur passiert ist. Warum aber überhaupt Mädchenpensionat, im alten Griechenland? Die Inszenierung greift auf, dass Henry Purcell seine Oper im Auftrag des Chorleiters eines Mädchenpensionates geschrieben hat und dass sie dortselbst uraufgeführt worden ist. Wobei nicht ein Mädchenpensionat der Enstehungszeit, sondern eins im 20. Jahrhundert und, den Kostümen nach zu schließen, etwa dessen fünfziger Jahren gezeigt wird (warum, lässt sich vermutlich nicht klären).

In ironischen Aufrissen, fein gezeichnet, eine Teegesellschaft, Alltagsszenen der Insassinnen mit gleichzeitig voyeuristischem, als auch exhibitionistischem Schulwart, einem Picknick mit drei wunderschönen Hunden (die mich, ihrer ansichtig, sofort verärgern, denn lebendige Hunde zu dekorativen Zwecken haben auf der Bühne nichts zu suchen, worauf prompt der eine Hund, den Madelaine Wibom mit an die Rampe nehmen muss, um dort an seiner Seite eine Arie zu singen, nicht mit will und sie ihn zerren muss und mit Leckereien dazu bringen, dass er bleibt, wo er bleiben soll, und ich frag mich einerseits, wieso sie sich solches gefallen lässt, und andererseits, wie man dazukommt, eine Hundenummer, die ja den selbstverständlichen und ausschließlichen Focus kriegt, beobachten zu müssen, allerdings: Frau Wibom schafft es mit Bravour, dennoch richtig und schön und mit adäquatem Ausdruck zu singen, also ist eh nix passiert), wobei die Spielart des Humors bei ausgetüftelt britischem Ambiente dennoch gefühlsmäßig weniger britisch, denn schweizerisch zu sein scheint. Obwohl: niemand lacht im Publikum dieser Sonntags-Abo-Vorstellung, aber vielleicht soll das ja so sein. Auch ist die Geschichte, die erzählt wird, in ihrem Grundzug ja durchaus alles andere als komisch. Überhaupt stellt sich die Frage, ob die ironische Schicht, die der Regisseur einzieht und selbstverständlich im Schlussakt aufgibt, bei Didos Klage und Tod aus gebrochenem Herzen, irgendeinen Sinn über den Selbstzweck hinaus haben könnte, außer vielleicht den, dass es heutigentags schwierig zu sein scheint, große Gefühle auf der Bühne auch des Musiktheaters ohne Brechung darzustellen, es sei denn die großen Gefühle des Schmerzes, der Todesahnung und des Todes.
So kann ich mich den jubelnden Pressestimmen nicht gänzlich anschließen, wenngleich Stephan Müller außer Ideen und Konzepten auch sein Können als Regisseur zu zeigen imstande ist. Und dass Musikenthusiasten die Aufführung, auch in ihren Zusätzen (mit denen der musikalische Leiter des Abends, Howard Arman, die unvollständig überlieferte Partitur fertigstellt), feiern: die Schönheit und Eleganz der Musik von Henry Purcell ist bei Howard Arman und dem Luzerner Orchester in besten Händen, und Ensemble, Chor und Mädchenchor stehen dem um nichts nach, und, um eine hervorzuheben, Marie-Claude Chappuis (die ich schon als Dorabella bewundern durfte) ist eine beeindruckende Dido.

Beim Publikumsgespräch, jüngst, bei welchem sich die Direktion des Luzerner Theaters dem kritischen Publikum sozusagen stellen wollte, was sehr löblich ist, wobei allerdings das Publikum eher wegblieb und von den wenigen, die da waren, auch nur Dankesadressen in Bezug auf den Aufschwung nach der Direktion Mundel kamen, auch Verena Weiss, die Tanzdirektorin, die Leiterin also dieser wunderbaren Tanz-Compagnie, die Auskunft gab (wie die anderen Bereichsleiter auch) über die geplanten Produktionen in der nächsten Spielzeit. Und, als sie so redete, wurde mir klar, warum ich Schatten der Erde, das Hölderlin-Projekt, zwar ob seiner Perfektion bewundern musste, aber in Bezug auf einen meiner Dichter-Götter allzuviel Distanz, gar Kälte zu bemerken glaubte: sie kennt den Hölderlin, den ich kenne, gar nicht, und meine Konstruktion, aus den selben Überlieferungen gespeist wie ihre, ist von ihrer so weit entfernt, dass ich wohl hätte vergessen müssen, dass von Hölderlin die (durchaus nonverbale) Rede war, um die mögliche Erfahrung zu machen, die ich, als mein Hölderlin sich also nicht einstellte, wohl abgeblockt habe.
Anders bei „Wash the Flowers“, von Carolyn Carlson choreografiert, die sich auf „C.G. Jung und das Unbewusste“ bezieht. Insofern ich mich, wenn, eher zu den Freudianern als zu den Jungianern zähle, ohne mit dem Werk von Jung mich allzusehr beschäftigt zu haben (während ich von Freud ja doch mehr als die obligaten drei Seiten, ab denen man mitreden zu dürfen glaubt, gelesen habe, vor auch schon längerer Zeit allerdings), war ich von keiner Konstruktion belastet, kaum interessiert, das Jungsche Werk tänzerisch angeliefert zu kriegen, aber neugierig.
Und, was Verena Weiss beim Publikumsgespräch als Manko des Tanztheaters beschrieb, dass es kein Stück hat, welches es gilt umzusetzen, sondern erst einmal nur ein Thema, einen Titel, eine Ahnung, ist im Grunde ja ein Vorteil, zumindest insofern, als Tanztheater nie unter den Zugzwang von Modernität gerät wie Sprech- und Musiktheater-Regisseure bei alten Werken unter marktgemäßen Genie-Zwängen: Tanztheater, seit es sich vom Ballett abgespalten hat, ist immer modern, immer neu, immer eine Uraufführung. Bei Wash the Flowers las ich später im Programmheft, nachdem ich hochzufrieden und begeistert aus der Premiere (für die ich, unverständlicherweise, kurzfristig eine Karte bekommen hatte) gekommen war, dass Tagebuchaufzeichnungen und andere Notizen C.G. Jungs Ausgangspunkt des Tanztheaterstücks gewesen waren und ansonsten wohl das Bewusste und Unbewusste der Choreografin und der Tänzerinnen und Tänzer im Spiel bei der Entstehung dieses vortrefflichen, beeindruckenden Abends. Stark auch die Bilder von Pascala Montandon auf den Stellwänden, die von den Tänzern als flexibles Bühnenbild bewegt wurden. Nicht der Versuch also, dem Publikum C.G. Jung tänzerisch zu vermitteln. Wohl überhaupt kein Vermittlungsversuch. Und wenn, dann für mich sprachlich nicht beschreibbar, dennoch im Moment der Aufführung von großer Klarheit und Tiefe. Kommunikation. Über die man nicht reden muss.
Ich würde, hatte ich nach dem Rigoletto notiert, in Programmheften nur noch die Besetzungslisten lesen, und tatsächlich hab ich beim Letzten Gast von Thomas Hürlimann erst Wochen später den Aufsatz von Peter von Matt, dem großen Zürcher Literaturwissenschaftler (dessen Analysen, ohne sich je über das Werk emporschwingen zu wollen, jeweils einen hohen Eigenwert als Essays entwickeln und oftmals, wie diesfalls, das Stück und auch seine Aufführung ergänzen), im Programmheft gelesen, dann das ganze Heft (Gestaltung Heike Dürscheid), das über Fischerei Auskunft gibt und über Oskar Werner, denn von Fischern und ihren Anverwandten und einem ruinierten See sowie vom „letzten Gast“ Oskar Werner handelt dieses Stück, das (ich hatte es vor rund 10 Jahren, als es neu war, gelesen) in dieser Aufführung den Lektüregenuss weit übertrifft. Nun soll, so Pressestimmen, die Luzerner Aufführung auch die Uraufführung, damals (in Zürich, wenn ich mich recht entsinne) übertreffen, ob ihrer größeren Entspanntheit des Erzählbogens und der adäquateren Entfaltung der Komödie. Die Sonntagsabend-Vorstellung, in der ich mich aufhalte, ist keinesfalls ausverkauft, aber wohlgefüllt, und der Applaus des Publikums scheint mir enthusiastisch. Verdientermaßen.
Nun kann ich Hürlimann, seit ich Stichtag gelesen (und mir im Burgtheater dann nicht angeschaut habe), als Theaterautor ganz besonders gut leiden, und ich halte ihn für den legitimen Nachfahren (um nicht etwa Erbe zu sagen) von Friedrich Dürrenmatt (geerbt hat wohl die Gattin), des großen, für mich größten Schweizer Dichters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mindestens, vor dessen Spätwerk (welches ja nun leider keine dramatischen Werke mehr enthält) ich mich eigentlich nur kniend aufhalten möchte, während ich es naturgemäß, laut und leise, hingerissen lese, und ich war im Grunde, trauernd, auch empört, als er allzufrüh starb, weil es fortan kein neues Dürrenmatt-Buch mehr geben würde. Nun braucht Thomas Hürlimann selbstverständlich den Bezug auf Dürrenmatt nicht, zumal sein Rang weit über die Schweiz hinaus längst unbestritten ist. Aber mir scheint hier eine Nähe (wobei ich keine Ahnung habe und mir auch herzlich gleichgültig ist, wie die offizielle Literaturwissenschaft dazu steht) vorzuliegen vor allem in der Unerbittlichkeit der Geistesschärfe, die, unbestechlich, mit großer Selbstverständlichkeit ins Fabulieren kommt, ohne dabei jemals die Notwendigkeit gedanklicher Klarheit aufzugeben. Wobei die Verwandtschaft, bezogen auf die Skurrilität mancher Geschichten, wohl breiter angelegt eine herrliche Schweizer Dichter-Tradition zu sein scheint.

Im Letzen Gast fällt den drei Fischern, die ihren Verein nicht aufgeben wollen und nach dem Tod ihres Obmanns auf der Suche nach einem neuen Obmann sind (obwohl der See, auf den sich dieser Fischer-Verein bezieht, gekippt ist und die Existenz des Vereins also zwecklos), im Bahnhofsbuffet von Buchs der betrunkene Schauspieler Oskar Werner in die Hände, dem sie die Obmannschaft des Vereins antragen, die er erst annimmt, ehe er, konfrontiert mit dem Gestank des toten Sees, die Flucht ergreift. Und Hürlimann gelingt, und die Aufführung arbeitet das schön heraus, einen sehr realistischen Oskar Werner zu zeichnen, seinen tragischen Verfall auch in schräger Komik darzustellen (ganz im Sinne Ödön von Horváths, der das Komische aus dem Unheimlichen herleitet), ohne ihn irgend zu denunzieren (wie er alle seine Figuren, was ja seit jeher die großen Dramatiker auszeichnet, verteidigt). Vielmehr ist der Letzte Gast auch deutlich eine Hommage an Oskar Werner. Das weiß auch die Aufführung und selbstverständlich die Schauspielerin, Anja Schweitzer, die Oskar Werner spielt. Sie imitiert ihn nicht. Zwar hat sie sich ein paar körpersprachliche Eigenheiten vom späten Oskar Werner ausgeborgt, das Fahrig-Hektische zum Beispiel, aber es gelingt ihr die Anverwandlung in eine sehr persönliche und rundum geglückte Figur. Wenngleich: so sehr zu begrüßen ist (alles andere wäre unerträglich), dass sie völlig auf die Imitation der sehr charakteristischen Stimme und Sprechweise Oskar Werners verzichtet, so sehr irritiert (mich), dass sie in eine Press-Stimme gerät, die der wohlklingenden, immer ein wenig singenden Stimme – auch des besoffenen – Oskar Werner nun geradezu entgegengesetzt ist. Diese Irritation macht, dass der große Monolog für mich ein wenig einbricht, während ich andererseits hoch-fasziniert bin. Schauspielkunst. Wie überhaupt in dieser Aufführung: Karin Romig in einer ihrer lapidar-pointierten Rollengestaltungen, Anna Stieblich, als auftrumpfende Psycho-Tussi wie eine verzweifelt grinsende Schlange, Marcel Metten, diszipliniert und präzis in einer sein Talent weit unterfordernden Rolle, Henry Meyer toll als verbohrt-verquälter Erotomane, oder Jürgen Sarkiss, der den durchfallkranken Fredi Frunz und dessen Heroismus des Scheiterns mit genau ziseliertem Understatement, die Kraftlosigkeit kraftvoll-leise, in schöner Balance darlegt. Elisabeth Kopp als Fredis unzufriedene Gattin ein wenig enttäuschend: die Verwirrtheit und Verlorenheit der Figur, die, von Oskar Werners noch größerer Verlorenheit wie magisch angezogen, mit ihm anbandelt und sich wieder eine Enttäuschung, worauf sie offenbar konditioniert ist, abholt, will in der Gestaltung, scheint mir, auf das Manische, das allen Figuren in diesem Stück anhaftet, verzichten und wird dadurch unscharf. Während Carina Braunschmidt ihre gleichzeitig naive und lebenserfahrene Serviertochter als komisch-schrille Nudel anlegt, die aber wie selbstverständlich auch in Momente von Gefühlstiefe und Zärtlichkeit gerät.
Im Grafen von Luxemburg, mitten im ersten Akt, frag ich mich, ob nicht vielleicht die Operette jene Gattung Musiktheater ist, mit der ich wenig anfangen kann. Andererseits hatte ich schon in meinem ersten Dramaturgenjahr das Vergnügen, zu einer Walzertraum-Aufführung (mit Rainhard Fendrich als Leutnant Montschi) ein Programmheft zu verfertigen (und kommen mir sofort drei Melodien in den Sinn, die im Ohr kleben seit 24 Jahren). Auch sitz ich im Grafen von Luxemburg zwei Tage nach meinem zweiten Rigoletto-Besuch, der noch nachklingt (und ich bin inzwischen nahezu besessen von dieser Oper). Auch ist der erste Akt schon von der Vorlage her allzu breit angelegt und bietet, in der Inszenierung Dominique Menthas, alles an Glanz auf, was nur irgend möglich ist am Luzerner Theater, wunderbar im Detail, aber im Ganzen fast zuviel. Das fügt sich dann im zweiten und dritten Akt und schlägt einen schönen Bogen. Auch ist diese Anarchie des Sich-gehen-Lassens auch hier und bei Lehar überhaupt, der zu einer zusammengepantschten Handlung ungeniert die Geilheit zelebriert und zuletzt höhnisch Ehen stiftet. (Volker Klotz: „Alle Operetten handeln vom sinnlichen Glück. Vom Glück, das die Sinne befällt und dem sie verfallen sind.“) Auffällig auch, dass Lehar (wie im Programmheft zudem vermerkt) bei Puccini, aber sehr gekonnt, abschreibt, und Puccini ist wundervoll, Lehar ist wundervoll. Man singt und musiziert auch mehr (weit mehr) als ordentlich im Luzerner Theater. Und überhaupt wird ein breitgefächertes Können lustvoll entfaltet. Dennoch: irgendetwas fehlt mir.
Aber was? Nicht die Plausibilität, in diesem Genre, in dem Rausch und Glanz und Sinnlichkeit gegen die Vernunft gesetzt sind. Nicht ein etwa irgend Wienerisches (wobei, wenn, dann nicht das Schlampige, sondern das „Gefeanzte“, Hineinschleifende, die Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, aber das sollt’ ich in Wien selber suchen, nicht hier, und dort krieg ichs auch selten). Nicht dass es ein Tanz am Abgrund wäre, denn die Konzeptionen, die der Operette nicht gestatten möchten, das zu sein, was sie ist, sind nichts als öd; und nicht alles, was mit dem Barocken möglicherweise verwandt ist, fügt sich ins barocke vanitas, vanitatum, das als Horizont des Prachtvollen immer gegenwärtig ist. Vielleicht im Ganzen, was Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Stasa Kokozow an schriller Rollengestaltung hochpräzise hinfetzt, aber vermutlich lässt sich das nicht übertragen. Dass es mich stört, wenn bei Irina Popovas wunderschöner großer Arie hinten der Oberkellner mit Madelaine Wibom eine stumme Szene hat, je nun (und ich kenn’ halt nur Schauspieler, die sich sowas nicht gefallen lassen würden). Und selbstverständlich kann ichs eigentlich nicht leiden, wenn Sprech-Dialoge von den Sängerinnen und Sängern ebenfalls gesungen werden, aber es ist klar, dass man bei einem schweizerisch-schwedisch-bulgarisch-koreanisch-deutschen Ensemble einen Weg zu einer Art einheitlicher Sprache finden muss und vielleicht ist dieser ja sowieso der richtigste. Vielleicht fehlt ja auch gar nichts und ich bin nur ein schlechtes Publikum, das sich mit einer Attitüde des Kritischen einhüllt, um ja nicht dem Genießen zu verfallen.

Zu genießen gibts genug: die Tanzcompagnie als Servierpersonal etwa, wie erwähnt, Gregor Dalal als blöder russischer Fürst, Tanja Ariane Baumgartner (und das muss immer wieder gesagt werden), Irina Popova als sanft-hingebungsvolle Angèle Didier, sowieso der Chor und der Extrachor des Luzerner Theaters und das Luzerner Sinfonieorchester, und selbstverständlich das rein schwedisch besetzte Buffo-Paar, bei welchem Madelaine Wibom ihren Partner Martin Nyvall um Haupteslänge überragt und die süße Soubrette mit ihr überhaupt eine athletische Eleganz kriegt, die mir ausnehmend gut gefällt (wobei ich herzlich lachen muss, als sie beim Schlussapplaus von hinten nach vorn zur Rampe rennt und dort ausgerechnet zu einem Knix sich zusammenfaltet).
Frau Wibom zwei Tage vorher, und noch einmal bei der letzen Rigoletto-Vorstellung im Juni, auch als Gilda. Dabei ist sie ein wenig dadurch behindert, dass die Inszenierung (deren Qualität sich mir bei jedem Wiedersehen in genauer zu bemerkenden Details noch mehr erschließt, zumal Hector Sandoval gesund ein glänzender Duca ist) nicht mit ihr und für sie entwickelt wurde, und sie sich also etwa die (bei Jutta Böhnert selbstverständiche) Kindlichkeit erspielen muss, was dann momentweise seltsam neckisch ist. Andererseits ist die Absurdität der als Kind behandelten erwachsenen Frau deutlicher. Und überhaupt ist alles Erwachsene der Gilda bei Madelaine Wibom von großer und sehr schöner Ausdruckskraft, die liebende als deutlich begehrende junge Frau zum Beispiel oder ihr dritter Akt (worin das berühmte Quartett für mich ein besonderes Beispiel für die inszenatorischen Schlüssigkeiten dieser Aufführung ist).
Zum zweiten Mal (nach „Taubenhain“, und, wie sich inzwischen herausgestellt hat, letzten Mal, weil die schön-abgewrackte Spielstätte zugunsten des neu gestalteten UG wieder aufgegeben wird) im Hotel Union beim E.T.A.-Hoffmann-Projekt „Die Wochentage bin ich Jurist“. Nun hab ich so meine Probleme mit Projekten, aber dieses ist schön, insofern es die akribisch-traumsüchtige Prosawelt Hoffmanns fürs Theater gewinnt.
Zwar ist mir der erste Teil zu lang, was sich möglicherweise darauf zurückführen lässt (um meinen Theaterbesuch auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin zu dekonstruieren), dass an diesem Freitag das Wetter kreislaufbedrohlich schwül ist, andererseits ist im Programmheft nachzulesen, dass die Dauer der Aufführung ursprünglich um 25 Minuten kürzer (und ohne Pause) geplant war, was eine wohl sehr gute Planung war, denn die Aufführung verlangt höchste Konzentration, um in ihrer unaufgeregten Erzählweise ihre beabsichtigte Wirkung im Kopf des Zuschauers auslösen zu können. Was indes im zweiten Teil in schöner Ökonomie gelungen ist. Wobei der Abend insgesamt naturgemäß neben seiner grundsätzlichen Genauigkeit von der Spiellust dieses Ensembles lebt: Elisabeth Kopp, Christoph Gerega, Christoph Künzler, Henry Meyer, Jürgen Sarkiss und Francesca Bertoli.
Beim erwähnten Publikumsgespräch vermutet Dominique Mentha, dass Theater auch Kommunikation sei, woraufhin sich die Frage stellt, was es außer Kommunikation noch sein könnte. Wobei selbstverständlich die Kommunikation einer Aufführung eine andere ist als die eines Publikumsgesprächs und ein ganz andere als die einer Spielzeitbroschüre. Wobei die beim Publikumsgespräch so erfreuliche Tatsache, dass sowohl Peter Carp für das Schauspiel, als auch John Axelrod für das Musiktheater ihre Spielplanvorhaben als in starkem Bezug auf das Ensemble entstanden erläutern, in der Spielzeitbroschüre wie schon im letzten Jahr in keiner Weise vorkommt. (Und mir dessen Design noch immer und die Bildcollagen, die auf allzu vielen linken Seiten Platz verschwenden, schon wieder nicht gefallen.) Die Internationalität, die Peter Carp mit der Offenheit Luzerns rechtfertigt und die dadurch gesetzt wird, dass etwa ein argentinischer Regisseur „Romeo und Julia“ inszenieren wird und dabei naturgemäß seine Auffassungen und Bilderwelten mit- und in die Arbeit mit dem Luzerner Ensemble einbringen, ist übrigens eine schöne und auch wichtige und notwendige Sache (und hat mit der aus einem schwachen Selbstwertgefühl herleitbaren Internationalitäts-Hysterie, die in Wien ausschließlich als internationale Kompatibilität gemeint ist und mit der Theaterreform der freien Wiener Theaterszene als Bedingung ihrer Möglichkeit verordnet wird, überhaupt nichts zu tun).
Fazit: von elf nur ein wirklich enttäuschender Theaterabend („Drei Uraufführungen“, bei welchen nur das Mittelstück, „Leib. Wache“, interessant, jedoch zwischen dem unendlich langweiligen „Gantenbein“ und der seltsamen „Roten Asche“, bei welcher ich aber inzwischen nicht mehr weiß, ob ich sie nicht für Satire halten soll, statt völlig fassungslos zu sein, eingeklemmt war); „Cosi fan tutte“ musikalisch sehr schön bei enttäuschender Inszenierung (wobei ich nach dem Wiener „Don Carlo“ inzwischen begreife, warum die Cosi-Sängerinnen und -Sänger dauernd am Boden herumkugeln, wobei das Bodenturnen beim Meister Peter Konwitschny genauso seltsam unpassend ist wei bei der Schülerin Tatjana Gürbaca); „Rigoletto“ dreimal (und fast möcht ich beklagen, dass es keine Wiederaufnahme gibt); im übrigen, wie gesagt: bei kleineren Einwänden hier und da viel Theatergenuss im Luzerner Theater und oft Begeisterung. Und auf die nächste Spielzeit darf man ziemlich gespannt sein.