phèdre: Nackerte im Schauspielhaus

Die ‹phèdre› von Racine, ergänzt durch Einsprengsel der des Seneca: theatercombinat hat die 2008 in Genf erstaufgeführte ‹phèdre›, inszeniert von Claudia Bosse, in französischer Sprache als Gastspiel im Schauspielhaus gezeigt.

Die Zuschauer sitzen im Licht, und die Türen bleiben offen. Man kann, soll sich frei bewegen im Raum, die Perspektive ändern, auch an der getünchten Ziegelmauer, sonst meist Bühnenrückwand, eine Sesselreihe, im Parterre Stufen ohne Sessel, kein gemütliches Sitzen (außer eventuell am Balkon, wo im Schauspielhaus bekanntlich die allerbesten Plätze sich befinden), das Publikum umschließt die Spielflächen, den seilelosen erhöhten Boxring, auf dem der Racine-Text zelebriert wird, man beobachtet nicht nur die Spieler/innen, bemerkt, wenn wer geht und wiederkehrt oder die Position im Raum ändert, Beobachtung der Beobachtung, je nun …

Racine-Stücke sind ins Deutsche nicht nur, wie jedes Sprachkunstwerk, nicht übersetzbar, sondern auch alle Übertragungen, wenn sie dem Zauber des Originals nachempfindend auf der Spur sind, scheitern. Auch ist uns die Tradition dieses französischen ‚Deklamationstheaters‘ völlig fremd, nicht nur fremd geworden: es sind Arien, Duette, die der begleitenden Musik nicht bedürfen, Musik in Sprache, das darf Ryhthmus und Reim betonen mit erhabenem Sprachgestus und verfällt dennoch niemals einem (im Deutschen immer so naheliegenden) falschen Pathos. Dass diese Aufführung dies ganz deutlich zeigt, ist ein Geschenk.

Ritualisierte Aktionen, choreographiert, „Körperdisziplinen und Repräsentationsformen von Barocktanz bis Boxkampf“ (siehe→): dies faszinierend, schlüssig, die Spieler/innen immer in Bezug gesetzt zueinander, beteiligt auch wenn unbeteiligt, unsichtbare Verbindungslinien im Raum, die durchs Publikum schneiden und es nie entlassen, wobei auch die Bewegungen der Zuschauer/innen den Raum (gestaltet von Alexander Schellow) jeweils neu definieren, und somit auch das Spiel, obwohl dieses hochpräzise-festgelegt abläuft.

Frédéric Leidgens (Foto © Severin Koller)
Frédéric Leidgens (Foto © Severin Koller)

Die Nacktheit der Schauspieler/innen erschließt sich mir nicht. Bewundernswert die Selbstverständlichkeit des Nicht­selbst­verständlichen, dieses „die Haut zu Markte tragen“, dieses Sich-Aussetzen den bei Nacktheit immer männlichen und weiblichen Blicken – man schaut immer auf die Pimmel zuerst und was sie treiben und auf Brüste und ob oder wie sehr die Schambehaarung rasiert ist und auf das Muskelspiel der Hinterbacken. Das ist wohl so geplant, siehe oben: Voyeure, die die Nackerten und einander als Voyeure beobachten. No nebbich. „Entkleidung der französischen Klassik“? Da reichts, den Prunk abzuräumen (siehe etwa die Vließ-Kostüme in Köln→). Und sobald der männliche und der weibliche Blick ermattet sind, ist diese Nacktheit auch nur ein Kostüm.

Auch die Ankündigung der „versehrten älteren Körper“ ist eigentlich nicht verständlich: zwar sinds drei sozusagen ‚alte Knacker‘, die einen erwachsenen Mann (Thésée: Armand Deladoëy), einen sehr jungen Mann (Hippolyte: Serge Martin) und eine junge Frau (Phèdre: Frédéric Leidgens) spielen, und eine Frau mittleren Alters, die eine junge und eine alte Frau (Oenone, Aricie: Véronique Alain) spielt, aber nichts von Versehrtheit: es sind im Grunde schöne Körper, die schöner werden von Satz zu Satz, aufgewühlt und irgendwie durchglüht von diesen faszinierend-berauschenden Gesängen der Racinschen Verse. Und dann ist da auch noch Marie-Eve Mathey Doret (Théramène, Panope, Ismène, Auszüge von Seneca), die alles andere als versehrt, vielmehr nichts als schön und strahlend jung ist. „Wenn schon Altersheim, dann konsequent Altersheim“, fällt mir ein. Und auch: „Aha, die alten Männer spielen die Hauptrollen, die Frauen die Nebenrollen, das hat sicher etwas zu bedeuten.“ Zugegeben: vor allem gefällt mir gar nicht (und das mag einfach nur mein Problem sein), dass die Phaedra von einem Mann gespielt wird, der noch dazu angehalten ist, sich ‚weiblich‘, x-beinig, sich das Geschlecht verdeckend kokett, sich in den Hüften wiegend, zu bewegen, was mir eher als ‚weibisch‘ erscheint oder mitunter gar als Skizze einer schlechten Schwulen-Parodie: der Skandal der Phaedra ist ja die Frau als begehrendes Subjekt, das will ich nicht von einem Mann gespielt sehen. Dabei ist mir zuletzt nicht klar, ob der Eindruck, dass der nichts als edle Hippolyt dem ‚bösen Weib‘ Phaedra gegenübergestellt ist, ganz dem Racine oder auch meiner Irritation auf Grund der Besetzungsentscheidung anzulasten ist.

Anstrengend das unbequeme Sitzen. Selbst schuld, dass ich wie festgewurzelt bin auf meinem Sessel. Ich frag mich, ob ich unauffällig bleiben will und deshalb sitzen bleibe, und weiß es nicht, zumal man ja in diesem Raum selbst unbeweglich nicht unauffällig sein kann. Dreieinviertel Stunden sind ohne Pause zu lang, aber ich will nichts versäumen, warum eigentlich nicht? Sehnsucht nach empathischer Identifikation, die hier immerzu herausgefordert und hintertrieben wird. Am Ende erschöpft und steif, fasziniert und auf Distanz gehalten. Klänge klingen lange nach, der Rhythmus der Verse, kräftig, zwingend. Bilder bleiben von Personen (Spielern und Zuschauern), die Skulpturen, Marionetten ohne Schnüre, auch das schöne Fleisch, naturgemäß.