Das Burgtheater hat eine neugestaltete Website („Homepage“ genannt). Die auf ein Archiv, soweit ich imstande war, dies festzustellen, verzichtet. Das ist so üblich bei Theater-Websites (nur die Josefstadt tut nicht so, als hätte mit der neuen Direktion alles neu begonnen).

Bei der Durchsicht der Regisseurs-Namen fällt auf, dass zwar einige spannende Regisseur/innen (wieder) an der Burg arbeiten werden, worauf man sich freuen kann, dass aber kein/e einzige/r Österreicher/in inszenieren wird (vielleicht mit Ausnahme des Orsolics-Stücks von Franzobel, derzeit in der Regie-Position noch unbesetzt, bei welchem ja die Idee, dass das jemand inszenieren sollte, der die Sprache und die Geschichte versteht, möglicherweise aufkommen könnte). Dass es auf „Burgtheater-Niveau“ (wie ich schon plappern höre) keinen geben soll, halte ich für dummes Geschwätz. So wie das Burgtheater personell und vom Spielplan her aufgestellt ist (schon seit Bachler), steht es nur zufällig in Wien. Wobei dies ganz offensichtlich durchaus kulturpolitischer Wille zu sein scheint.
Europäisch aufgestellt
Andererseits halte ich die etwaige Einführung irgendeiner Quote für unsinnig, freut mich das geballte Eindringen von Schweizer Mentalität (Nikolaus Helbling, Barbara Frey, Stefan Bachmann) und dass der dänische Dogma-Regisseur Thomas Vinterberg und der Ungar David Marton inszenieren werden. Das scheint an die Zeiten von Klingenberg und Benning anzuknüpfen, die das Burgtheater als Wiener Theater ja europäisch aufgestellt haben, dies möglicherweise in altösterreichischer Attitüde, die Wien als einzige Theatermetropole im deutschsprachigen Raum ganz selbstverständlich behauptet hat. Was Peymann, bei aller Verösterreicherung, in seiner Fixiertheit aufs deutsche Feuilleton und sich selbst (aber er hatte Bernhard und Tabori), zurückgenommen und der zutiefst unkünstlerische Karrierist Klaus Bachler, mit seiner Fixierung auf Regisseurs-Ranglisten von Theater heute (aber er hatte Breth und Bondy), gänzlich ins Provinzielle gewendet hat.
Was ja nicht heißt, dass nicht auch in jüngster Zeit wunderbare Aufführungen stattgefunden haben. Wobei, was den einzigen österreichischen Star-Regisseur Martin Kušej betrifft, ich bei seinen Inszenierungen, zumal wenn er sich an Grillparzer, Nestroy und Horváth vergriffen hat, immerzu Wimmerln gekriegt habe. Und nicht, weil er sich nicht als „Diener“ der Autoren verstanden hat (große Theaterdichter haben Diener nicht nötig), sondern weil seine Regiehandschrift aus einem düsteren, früh ermatteten Greisenblick auf Welt und Menschen sich ergab, die in griesgrämig-besserwisserischen, äußerlichen, kalten Theaterbildern sich organisierte. Dass das Verstehen, das aus einem Sich-Einlassen, Eindringen, vorurteilsloser Lektüre sich ergibt (wobei eine solche Lektüre nicht dekonstruktivistisch ist, wie oft angenommen, wenn sie den Text zertrümmert auf ein Beliebigkeits-Puzzle hin, sondern nur, insofern sie im Mitgeteilten auch das Ausgeschlossene, die blinden Flecken des Autors aufzusuchen versucht), bei vielen gegenwärtigen sogenannten Regietheater-Regisseuren selbstzentrierter und besserwisserischer Überheblichkeit gewichen ist, kritisieren Andrea Breth und auch Peter Stein (der vor Besserwisserei, wenn auch auf hohem Niveau, indes nicht immer gefeit ist) im Zusammenhang mit der pauschalierenden und teils schlecht informierten Salzburger Kehlmann-Rede zum Regietheater zurecht.
Mentalitäten
Aber auf Individualitäten zurechenbare Mentalitäten sind das Stichwort, um das es mir geht, nicht Nationalitäten. Denn Tobias Moretti etwa ist ein Tiroler mit italienischen Vorfahren (sowie diplomierter Landwirt, ein Tiroler Bauer also) und Birgit Minichmayr ist in Linz geboren und in Pasching aufgewachsen: den Unterschied der aus den jeweiligen Wurzeln bezogenen und in den individuellen Künstlerpersönlichkeiten aufgehobenen Mentalitäten würd ich gern Klavierspielen können. Und niemand soll mir erzählen, man könne, um als Kosmopolit zu gelten oder die Enge der heimatlichen Provinzialität hinter sich zu lassen, diese Wurzeln einfach abschneiden. Wär ja auch blödsinnig, sich selbstverständlicher Energien zu entledigen.
So ist beim Vorwurf, man kriege am Burgtheater fast nur noch deutsche Schauspieler und Schauspielerinnen zu sehen, bei einem seit jeher gemischtsprachigen Ensemble, selbstverständlich die Frage nach den Sachsen und Luzernern und Baslern und Steirern und Salzburgern und Bayern und Hannoveranern und Vorarlbergern zu stellen, aber natürlich auch die nach den Wienern, die ja nicht nur gebraucht werden, um unsere Altwiener Komödien zu spielen, sondern auch, damit in den vielfältigen Reibungen aller Mentalitäten und Individualitäten das Burgtheater leichter seinen Ort findet (und noch niemand hat mir schlüssig erläutern können, inwieweit die Regisseure und Regisseurinnen was anderes wären als Teil des Theater-Ensembles). Denn Theater kann zwar überregionale Bedeutung haben, aber es funktioniert in erster Linie lokal oder gar nicht, und selbst ein Wettstreit mit den deutschsprachigen Großtheatern in Hamburg, München, Berlin, Zürich etc., wenns denn um einen solchen auch gehen sollte, kann nicht mit gleichen Mitteln und nicht als Abklatsch gewonnen werden. Und dass das Produzieren von solchem Abklatsch, wie immer offen und international kompatibel und als Event es sich gebärdet, nur der aufgeplusterte Zwilling jener dumpfen Provinzialität ist, die, in Konventionen vergangener Glorie festgefahren, sich allem Einfluss verschließt, sollte sich eigentlich herumgesprochen haben. Konventionell ist selbstverständlich beides: das Alt- und das Neumodische. Nun muss man das Modische natürlich nicht ununterbrochen verdammen, aber ich muss vom Burgtheater mit seinen Möglichkeiten höchste Theaterkunst als authentische erwarten dürfen.
Die Frage, das Verlangen nach den Wiener Schauspielern, den Wiener Regisseurinnen muss erlaubt sein, das Verlangen nach höchster Theaterkunst, die in grenzenloser Offenheit ihren Ort findet gegen alle wohlfeil-kompatiblen Theatermoden, ist legitim. Das Theaterherz der Wiener muss niemand wachküssen (wie weiland Peymann in Erlöserpose, wofür Thomas Bernhard ihn sicher ausgelacht und George Tabori vermutlich liebevoll-herablassend den Sturkopf getätschelt hat), das Theaterherz der Wiener ist seit Jahrhunderten hellwach, und wer drauf zugreifen und es sich einverleiben will, wers kolonialistisch zu versklaven versucht, wird auf jeden Fall scheitern.
Hartmanns Reise nach Wien
Matthias Hartmann, der neue Burgtheater-Direktor, ist ein kluger Mann. Er hat meine Irritation, dass er mit dem ‹Faust›, der deutschesten als deutschen Theaterdichtungen, seine Direktion eröffnet, in einem profil-Interview insofern zerstreut, als er eine Synopsis des Faust skizzierte, die nahezu identisch formuliert war wie jene, die ich abliefere, wenn jemand mir vorschlägt, vor Goethes Meisterwerk (das es zweifellos ist) innig-ergriffen niederzuknien und es von heiligem Schauer geschüttelt anzubeten. Hartmanns Faust-Inszenierung wird das Ergebnis einer Auseinandersetzung und Reibung sein, die mit Ehrfurcht und Ergriffenheit nichts zu tun hat.
Hartmann hat deutlich gemacht, dass er mit dem Faust und den vielen eigenen Inszenierungen, die er mitbringt, und dem Spielplan des ersten Jahres überhaupt, sich erst einmal vorstellen, sich präsentieren will, und dass er weiß, dass es ihm auf seiner Reise nach Wien gelingen muss, hier anzukommen. Dass acht Hartmann-Inszenierungen eine Übertreibung, womöglich eine eitle Kraftmeierei sind, je nun: dies entspricht wohl auch seinem Temperament und dem unbedingten Siegeswillen, der mir beim deutschen Fußball so auf die Nerven geht, dem man aber den Respekt, wenn einem nicht gerade völlig unheimlich ist, nicht versagen kann.
Grillparzers ‹Jüdin von Toledo›
Nun denn: im zweiten Jahr will er das Ankommen hinter sich gebracht haben und eröffnen mit Grillparzers ‹Jüdin von Toledo›. Da dieses Stück nun mein Lieblingsstück überhaupt ist, wird mirs niemand recht machen können. Und Stephan Kimmig, der als Regisseur dafür vorgesehen ist, schon gar nicht. Denn das ‹Goldene Vließ›, das er, unterstützt von einem glänzend informierten Dramaturgen namens Sebastian Huber, inszeniert hat, ist ein viel eingängigeres Stück, und die Aufführung hat ihre Lebendigkeit und ihren Glanz von einem äußerst homogenen Ensemble (was durchaus mit ein Verdienst des Regisseurs ist) mit Birgit Minichmayr und Michael Maertens im Zentrum bezogen. (Dass das Burgtheater der Direktion Bachler nicht imstande war, eine zweitägige Aufführung der Trilogie zu organisieren und sich mit einer auf drei Stunden verkürzten Produktion begnügt hat, ist allerdings ein Witz.) Ein starkes, richtiges Ensemble wird die Jüdin auch brauchen, das wird nicht das Problem sein. Das Stück, elegant zwar, aber auch zerklüftet, gebändigt, schroff aber und fast schrill, strukturell brillant, in seiner Balance aber dennoch immer gefährdet, wird aber auch einen Regisseur brauchen, der die Schauspielerinnen und Schauspieler nicht nur klug organisiert (und mit ein paar Einfällen auch sich selbst in Szene setzt), also nicht jemand wie Stephan Kimmig, der ja im Grunde doch auch ein fader Powidl ist. Jemand wie Ernst Wendt, jemand mit dessen Zerrissenheit und intellektueller Brillanz, oder jemand mit der (Rhythmus-)Genauigkeit und Gedankenschärfe von Dieter Giesing, oder ein Zauberer wie Luc Bondy … (damned, schon wieder keine Wiener …)
Aber bis dahin ist’s ja noch lang …