Liebe Kora,
wenn ich mir nun Schuberts fünfzehntes Streichquartett anhöre, frage ich mich, was am Theater ein Paradigma des Postdramatischen soll, bei dem das Post sich auf Sprache bezieht und also Drama die klassische Form des Schillerschen Dramas meint, bei welchem Wort für Wort alles entsteht, die Figur und dessen Charakter, die Welt und ihr Zusammenhalt, der Zusammenhang, alles, die Handlung, ein Fest des Individuellen, dem – bei Schiller – sich noch das Erzieherische hinzugesellt. Demnach wäre schon Shakespeare nicht Drama und die Griechen naturgemäß überhaupt nicht. Und das ist ja Blödsinn. Drama ist Handlung, nichts weiter. Dass in Gegensätzen, versteht sich, eins das andere aufganselnd, Reibung, damit was weitergeht, aber gleichgültig, ob jetzt die sprachliche Form die entscheidende ist oder nicht, die Körper, die Töne, das Sichtbare. Was in den Köpfen des Publikums entsteht, ist das Entscheidende, aber eben die Übereinstimmung im Augenblick, was ja nicht heißt, dass alle das Gleiche denken oder spüren (was bei Kommunikation ja nicht einmal herauszufinden ist), es liegt im Atem, der plötzlich gleich läuft und die Welt verändert.
Das Schillersche Drama stammt vom – grob skizziert – protestantischen Schultheater, das immer erzieherisch auf Wörter aufgebaut war. Und nur wer auf eine solche Tradition reduziert ist, und im Norden des deutschen Sprachraums ist wohl genau dies der Fall, steht dann staunend vor einer Theaterästhetik, die nicht sprachlich, also argumentativ letztlich, dominiert ist, und hält sie für neu und zukunftsweisend und muss alles andere als schnöden mainstream zurückweisen. Und einer, ein Theaterwissenschaftler, nimmt alles zusammen, was ihn in diesem fasziniert hat, und wirft sich zu einer allgemein gültig sein sollenden Theatertheorie auf, die genau niemand braucht. Wobei auffällig ist, dass die meisten, die in diesem Dunstkreis sich aufhalten, das Erzieherische, wenngleich sie es theoriegemäß zurückweisen müssen, nicht aufgeben, indem sie dem Publikum mit einem Überlegenheitsgestus ihre Ästhetik um die Ohren knallen und es für blöd erklären, wenn es ihnen auf ihrem Wahrheitsweg nicht folgt. Dabei ist genau das am Theater für immer verloren: die Möglichkeit, als Wahrheitsamt zu fungieren.
Dabei, wenn man auf diese nördliche Traditionsspur nicht einzig angewiesen ist, stellt sich heraus, dass nicht nur etwa Robert Wilson eine Theaterästhetik erfunden hat, die Oskar Schlemmer schon ausdifferenziert hat, nur damals im Bauhaus und nicht in den Stadttheatern unter Applaus eines sowieso durch und durch selbstergriffenen Feuilletons, sondern dem protestantischen Schultheater stand schon das katholische Jesuitentheater gegenüber, das nicht auf Erziehung, sondern auf Agitation setzte, auf Spektakel, auf alle Sinne. Damit viel näher dem griechischen, dem ursprünglichen Drama, viel näher dem elisabethanischen Drama, also Shakespeare, dem Meister. So müsste die Zusammenschau des Neuen korrespondieren mit einer Zusammenschau des Ganzen. Und ein Paradigma, das allein auf Ästhetik sich bezieht, schaut sowieso nicht heraus.
Ein Paradigmenwechsel hat allerdings bereits stattgefunden: das Theater hat seine Funktion als Wahrheitsamt, als welches es in der Aufklärung festgelegt wurde und woraus das nahezu flächendeckende deutsche Stadt- und Staatstheater-System entstanden ist, für immer verloren, wie gesagt.
Dies nun selbstverständlich ein Paradigma, das vom Publikum nicht absieht, wie das postdramatische, das als solches lächerlich, ja im Grunde peinlich ist.
Was hat das mit Schuberts fünfzehntem, seinem letzten, Streichquartett aber zu tun?
Dies: wenn ich mir klar machen will, und nicht nur mit Wörtern und Begriffen, was Drama ist, höre ich mir den zweiten Satz von Schuberts fünfzehntem Streichquartett an. Und das nicht nur, weil die Musik dem Theater viel näher verwandt ist als die Literatur.
Warum erzähe ich Ihnen das aber?
Nicht nur, weil Sie damit rechnen müssen, in Arbeiten zu geraten, bei welchen Schauspieler und Schauspielerinnen nur Material sind, Erfüllungsgehilfen eines Regisseurs, der sich als der eigentliche Künstler des Kunstwerks Theateraufführung setzt, wobei Sie Glück haben, wenn Sie etwa an einen bildenden Künstler vom Rang Schlemmers oder Wilsons geraten, den die Möglichkeit zeitlicher Entfaltung seines „Bildes“, also ein lebendiger Bilderzyklus, fasziniert, der dabei allerdings nicht davon absehen kann, alles selbst bestimmen zu wollen, und Pech, wenn Sie einem Regisseur der dritten Generation des Regietheaters ausgeliefert sind, der, gemäß dem Markt, auf dem er sich profilieren will oder muss, sich als Vampir gebärdet, der alles aussaugt und zusammenkleistert, um eine Auffassung vor allem von sich selbst zu zelebrieren, was dann, wenn er sich einer wunderbaren Vorlage bemächtigt, Handschrift genannt wird und Dekonstruktion oder dergleichen und die Vernichtung des Theaters betreibt, vor allem deshalb, weil Verachtung die bestimmende Haltung ist: Verachtung der Vorlage, Verachtung der Spieler, Verachtung des Publikums und überhaupt der Welt (und damit im Grunde Selbstverachtung).
Das klingt nun allzu „konservativ“. Nun ja. Ich sorge mich um den Fortbestand des Theaters in Zeiten, in denen es seine Berechtigung täglich beweisen muss und genötigt ist, seine Selbstverständlichkeit wieder zu etablieren, und allen Grund hat, die Überheblichkeit und den Größenwahn aufzugeben. Dabei versteht sich, dass das Theater seine experimentellen Labors braucht, um seine Lebendigkeit nicht zu verlieren, indem es das schon Durchgesetzte als Museales nur immerzu wiederholt. Aber das Experimentelle aus den Labors auf die großen Bühnen zu stemmen und 400 bis 600 Abonnenten um die Ohren zu blasen und dann beleidigt zu sein, weil dieses Publikum dafür kein Verständnis hat, vergisst, dass Theater im Auftrag genau dieses Publikums, das es hat, produziert und für dessen Bedarf. Und so sehr dieser Auftrag sich auf Lebendigkeit und damit Entwicklung bezieht, so wenig gesteht er den Machern Selbstüberhebung zu und erlaubt ihnen Vernichtung, auch wenn diese im Namen der Lebendigkeit vollzogen wird. Avantgarde am falschen Ort erzeugt, genauso wie alles Eventgetöse am eventuell richtigen, nur ein Geräusch, ob nun einen Knall oder ein fein verästeltes Klirren, und zurück bleibt nichts.
Ähnlich ja, ohne darauf aber jetzt weiter eingehen zu wollen, die Selbstverständlichkeit, mit der die Theater sich immer noch meist in Orgnisationsformen organisieren, die schon im 19. Jahrhundert alt waren, während sie Kunst, also etwa das Wahre, Gute und Schöne, versuchen in die Welt zu setzen: das kann nicht funktionieren und funktioniert also zumindest schlecht.
Und Sie, liebe Kora, müssen dessen gewärtig sein: dass Sie, wenn sie den Beruf der Schauspielerin ergreifen, in eine zerrissene Welt geraten. Dabei ist die Theaterwelt der gewöhnlichen Welt durchaus nicht unähnlich, aber als Schauspielerin haben Sie nicht die Möglichkeit, ihren Beruf distanziert zu den Bedingungen der Möglichkeit auszuüben. Zwar müssen Sie, wenn Sie hinausgehen auf die Bühne, alles zurücklassen, was nicht zu dem gehört, was Sie dort zu tun haben, aber andererseits haben Sie naturgemäß immer alles, was ist, dort mit. Und wenn Sie etwa, und gar mit Recht, unzufrieden sind mit Ihrer Gage oder Ihre Arbeitsbedingungen für ausbeuterisch halten zur Profilierung eines ehrgeizigen Intendanten oder gar, unmittelbarer, Regisseurs, dann werden Sie, auch wenn Sie es nicht wollen, diese Unzufriedenheit auf die Bühne mitnehmen, und sie wird Sie behindern bei dem, was Sie da zu tun haben, und zwar versteht sich, dass damit auch die Profilneurose des Intendanten oder Regisseurs nicht besonders gut bedient wird, aber es kann Ihnen sehr leicht passieren, an Intendanten und Regisseure zu geraten, die zu blöd sind, solches wissen zu wollen. Und so wie die Stadttheater zum Beispiel organisiert sind und der Regisseurs-Markt, der nach jungen Wilden verlangt und vergreiste Halbwilde produziert, müssen Sie sehr viel Glück haben, wenn Sie, was zu wünschen ist, jedes Mal, wenn Sie da hinausgehen auf die Bühne, dies im Vollbesitz Ihrer geistigen und körperlichen Kräfte tun, unbeeindruckt von allem, was an diesen Kräften zehren kann, jetzt abgesehen von Fieber und Halskrankheiten, die, und des bin ich sicher, das geringste Übel sind unter allen Übeln, die Ihnen zustoßen können.
Und dabei gilt noch dazu, dass wir Schauspieler und Schauspielerinnen brauchen, die sich den Bedingungen, die sie behindern, nicht unterwerfen. Was für Arbeitnehmer, die Schauspieler nun einmal sind, fast unmöglich ist. Dass ein starkes, gewachsenes, letztlich, bei aller individueller Differenz, homogenes Ensemble alles kann, auch im Sinne von Selbstbestimmung, versteht sich genauso wie die Notwendigkeit solcher Ensembles allüberall, soll das Theater nicht verschwinden. Aber damit ein solches Ensemble entsteht, braucht es Intendanten und Regisseure, die sich als Ermöglicher begreifen; aber wenn ich mir die Profilneurotiker anschaue, die in den Chefetagen sich aufplustern, ihre hässlichen kleinen Egos heraushängen lassen und alles, was ihnen anvertraut ist, auf die eigene Bedeutung hin zurechnen, karrieregeil und verzweifelt bemüht zu verschleiern, dass sie sich all das, was sie tun, im Grunde gar nicht zutrauen, weil ihnen, tief innen, dort, wo sie tunlichts vermeiden hinzuschauen, völlig klar ist, dass sie nur mittelmäßig talentiert sind, bin ich recht pessimistisch.
Ich will Sie erschrecken, ein wenig, weil es auch keinen Sinn hat, sich Illusionen zu machen. Aber man muss sich, will man diesen Beruf ergreifen, der der zentrale Theaterberuf ist und bleibt, auf den alle anderen angewiesen sind, klar machen, was alles möglich und nicht möglich ist. Dass, auch unter erschwerten Organisationsbedingen, immer wieder möglich ist, dass eine Theaterarbeit gelingt (und also die Magie hat, auf die alle Kunst angewiesen ist), hängt damit zusammen, dass gelingen kann, dass ein Produktionsensemble sich bildet als Insel, auf der alle Energien sich entfalten können. Und wenn diese Inseln auch durchaus zerfallen und nicht einfach weiterbestehen für eine neue Produktion, wenn nicht das ganze Ensemble, des Hauses, das Haus insgesamt, eine solche Insel in der Welt ist, versteht sich. Aber mit einer solchen Insel ist zumindest erreicht, dass ein Wissen von deren Möglichkeit in der Welt ist und die Konkretisierung einer schauspielerischen Grundsehnsucht, und das ist fein. Solches zeigt aber auch, wie wichtig talentierte Regisseure und Intendanten sind, als Ermöglicher, die von Profilneurose nicht angekränkelt sind und auf die Zwänge des Karrieremarktes pfeifen. Aber wer ist, wer kann das schon.
Ein Freund, klug, hochgebildet, ein Regisseur, der sich dem Marktgesetz des Halbwilden verweigert und auf Klarheit und Plastizität einer Aufführung pocht, und demgemäß nicht so wahnsinnig gut im Geschäft ist, wie er verdienen würde zu sein, plädiert für die Abschaffung der Stadt- und Staatstheater, indem er fordert, nicht mehr Häuser, also Bauwerke, die bespielt werden, zu finanzieren, sondern Köpfe, also Truppen, die, geschart um eine Künstlerpersönlichkeit, die sie gründet und zusammenhält, deren künstlerische Vision als gemeinsame entfaltet.
Problematisch. Weil die Kommunen, wenn sie ihre Theaterbauwerke schließen, das Geld, das damit erspart ist, sofort in alles andere investieren, das mit Kunst nichts zu tun hat. Auch bin ich nach wie vor fasziniert von der flächendeckenden Versorgung, also der lokalen Bindung, und auch von der Möglichkeit des Heterogenen in den Bauwerken, wo Raum genug wäre für künstlerische Visionen, die für und mit dem Publikum, das da ist, sich entfalten könnten. Sofern Leitungsteams in diesen Häusern etabliert werden, die Ensembles entwickeln, die diese heterogenen Visionen zu bündeln und zu entfalten imstande sind.
Allzuviel Kunstgewerbliches in der Realität. Wobei Kunstgewerbe das Mittelmäßige ist, das nicht begreift, dass das Aufgeplusterte und Laute, das hier als Kunst behauptet wird, das Imitierte und in Events Aufgeblasene alles andere ist als Kunst. Allzuviele Karrieristen in den Leitungsteams, die das Theater nur als Möglichkeit benützen, Karriere zu machen, und also auch überall sonst, wo es sie hinverschlagen hätte, nichts als Karriere zu machen versuchen würden, in welcher Branche auch immer.
Nur, wenn dem auch so ist, frage ich mich doch, ob man mit einem Schnitt die Kunsträume schließen darf, ohne versucht zu haben, die Fehler, die dazu führen, dass sie schlecht besetzt sind, zu finden und aus ihnen zu lernen.
Dass es im Moment danach ausschaut, dass das Theater, das die Struktur, in der es existiert, versucht festzuhalten, während es sich unter Sparzwängen nur unter ökonomischen Gesichtspunkten verändert, sich nach und nach auflöst, ist für Ihre Berufsaussichten nicht unbedingt günstig. Es wird, wenns so weitergeht, weniger Bedarf an Schauspielern und Schauspielerinnen geben und alsbald die Situation, dass sehr gut ausgebildete Schauspieler und Schauspielerinnen, wie in Amerika, einem Brotberuf nachzugehen gezwungen sind, der mit ihrer Ausbildung, ihrer Sehnsucht, mit Kunst nichts zu tun hat.
Nun ist das für die Qualität der Schauspielkunst möglicherweise ja kein Nachteil, man wird sehen, wie es sich entwickelt. Aber, so sehr es notwendig ist, dass Sie, wie gesagt, gezwungen sind, diesen Beruf zu erlernen, vielmehr diesen Beruf bereits haben müssen, Schauspielerin sein müssen, bevor Sie drangehen, Ihre Fähigkeiten, ihn auch ausüben zu können, zu entwickeln, so wenig besteht irgendeine Garantie, dass Sie, auch wenn Sie die beste Ausbildung erhalten sollten, Ihren Lebensunterhalt damit verdienen werden können. Ärger noch: es ist nicht gesagt, dass Sie, auch wenn Sie zu den Besten zählen sollten, also hochtalentiert und eine großartige Könnerin und imstande, dies jeweils auch optimal zu entfalten unter allen gegebenen Bedingungen, damit auf jeden Fall durchkommen, zur Spitze etwa, wo Sie, wenn es denn so ist, hingehören. Denn anders als etwa ein Maler oder ein Dichter, die schon genug Hindernisse zu überwinden haben, um ihr Talent durchzusetzen auf dem jeweiligen Kunst- bzw. Literaturmarkt, sind Sie nicht nur darauf angewiesen, für Ihr fertiges Produkt eine Galerie, die es ausstellt, oder einen Verlag, der es druckt und vertreibt zu finden, sondern Sie können überhaupt erst etwas verfertigen, wenn Sie in ein Ensemble sich eingefügt, eine Organisation gefunden haben, die dieses Ensemble aufgebaut hat, und seis nur für eine Arbeit, und brauchen also schon eine Finanzierung Ihrer Arbeit, bevor Sie angefangen haben; alles andere, was Sie tun können, ist Training.
Aber selbstverständlich ist es möglich, an die Spitze zu kommen. Wobei mit Spitze, nach meinem Verständnis, die Möglichkeit gemeint ist, auf höchstem Niveau arbeiten zu können, und nicht etwa ein auch finanziell großartiger Erfolg oder Prominenz und dergleichen (so sehr das zu wünschen wäre). Aber das, ein Erfolg, der diesbezüglich (am Theater) in einer Resonanz in den überregionalen Medien gemessen wird, hat ohnedies nichts mit der Qualität von Schauspielkunst zu tun. Zwar soll die Kunst der Theater-Stars nicht gering geachtet werden: Anders als bei etwa den Regisseuren haben unter Schauspielern Blender auf Dauer nicht wirklich eine Chance. Aber es ist nicht gesagt, dass Sie auf höchstem Niveau Ihre Kunst nicht irgendwo, weil es sich nicht anders ergibt und Sie Ihre Energien für Karriere nicht verschwenden können, wo die Großfeulletonisten nicht hinkommen, unterbezahlt nur entfalten werden können.
Dass Ihr Publikum, dort, in der tiefsten sogenannten Provinz etwa, diese Kunst verstehen wird und anerkennen, versteht sich. Und das Verständnis dieses Publikums, des unmittelbaren, mit dem man wächst und gedeiht, aufeinander bezogen und angewiesen, ist die für alle Schauspiel- und Theaterkunst entscheidende Kategorie: Theater funktioniert ausschließlich lokal, wenn es funktioniert.
Zeitungsgeschwätz, ob klug oder nicht, so sehr genossen, wenn es lobt, und wenn es auch ein großes Vernichtungspotential hat, wenn es nicht lobt, hat mit Theater nichts zu tun. Also glauben Sie niemals das, was in einer Theaterkritik über Sie gesagt wird, vor allem dann nicht, wenn es Ihnen schmeichelt.