Andrea Breth inszeniert mit ‹Quai West› von Bernard-Marie Koltès eins der sperrigsten Werke des frühverstorbenen Sprach- und Theaterkünstlers. Und mit ihrem Verfahren der Aneignung und Durchdringung, ihrer respektvollen Unerbittlichkeit, gelingt ihr, gemeinsam mit einem hochkonzentrierten Ensemble, ein nahezu brillanter Theaterabend. Dem indes die Leichtigkeit fehlt.
Wobei sich mir, nachdem ich inzwischen das Stück auch wieder gelesen, die Frage stellt, ob das Stück denn tatsächlich so sperrig ist, wie es im Burgtheater erscheint. Allerdings las ich die erste Übersetzung, angefertigt von Heiner Müller, von Koltès autorisiert, der sich, im Bewusstsein wohl der Unübersetzbarkeit, einen großen Schriftsteller als Übersetzer, also eine Nachdichtung gewünscht hat. Müller hat nun, des Französischen nicht mächtig, von einer Rohübersetzung aus gearbeitet und dabei deren Bindung an die französische Syntax beibehalten und einen Text entwickelt, der schroffe Fremdheit und raue Eleganz verknüpft. Anders Simon Werle, dessen Übersetzung ins Standard-Deutsch (mit Einsprengseln tendenziell norddeutscher oder fernsehdeutscher Umgangssprache), durchaus legitim, auf Perfektion im Deutschen aus ist. Aber die Geschliffenheit dieser Übersetzung ist auch eine Abgeschliffenheit, und plötzlich kommt dem Text, der noch dazu, bei aller Sprechgeschwindigkeit, ausgestellt und zelebriert wird, die Poesie abhanden.
Nacht. Stimmen in der Nacht, ein Mann und eine Frau orientierungslos, später Streiflicht, dann, immer wieder, blendend eine Lichtbarriere aus Plastikplanken, und die Augen ermüden schnell. Ungünstig. Koltès hat in einem Spiegel-Interview 1988 angemerkt, dass der Vorwurf, dass alle seine Stücke im Dunkeln und in der Dämmerung spielten, nicht stimme, dass es, auch in ‹Quai West›, Szenen in hellem Sonnenlicht gebe; auch würden, auch die sogenannten dunklen Szenen, an den Theatern nicht gut genug beleuchtet, man könne sie nicht gut genug sehen.
Koch, 60, ist von seiner Sekretärin Monique, weil er keinen Führerschein hat, im Jaguar in die Hafengegend (von Manhattan, könnte sein) gebracht worden. Er hat Geld veruntreut und will sich umbringen. Charles, ein junger Mann, der hier mit seiner Schwester, Claire, und seinen Eltern, Cécile und Rodolfe, Immigranten aus Argentinien, festsitzt und irgendwie nicht wegkommt, fest entschlossen, das Elend hinter sich zu lassen, dazu jedoch unfähig, Charles ist der erste, mit dem Koch verhandelt, er soll ihm den Weg zum Wasser zeigen, auch braucht er zwei Steine, um sie sich in die Taschen zu stecken, damit er untergeht, wenn er ins Wasser gesprungen ist. Zwar verirrt und körperlich unfähig, sich zurechtzufinden, Fremde, Eindringlinge, verstehen sich Koch und Monique mit den Hafenbewohnern in einem völlig: alles, aber auch alles ist ein Deal, ist verhandelbar, muss verhandelt werden. Fak taucht auf, der souveränste, geschickteste Verhandler, der seinen Vorteil überall findet und nimmt, was er kriegen kann, der Geduldigste, er fasst seine Beute, sobald die Zeit reif ist, lässt liegen, was er nicht mehr brauchen kann, und er ist hier richtig, in seiner Welt. Wie Abad, der Schwarze, der nicht redet, der Wächter, der Gott dieser Unterwelt, der das Heil bringt, die Erlösung: mit der Kalaschnikow.
Souveränität gestalterischer Möglichkeiten
Regisseure und Regisseurinnen, oft, suchen den ungewöhnlichen Zugriff, den Punkt, von dem aus sie, wie Archimedes die Welt, das Stück, mit dem sie verfahren (und damit natürlich durchaus wieder die Welt), aus den Angeln heben können. Oft bleibt das im Äußerlichen oder wird, wenn etwa Geisteszwerge Standorte aufsuchen, auf welchen sie die Genies oder vermeintlichen Genies der Zunft beobachtet zu haben glauben, ein matter Abklatsch, weil bekanntlich ein anderer als ein eigener Standort nicht funktioniert (der selbstverständlich mit der Einsicht gepaart zu sein hat, dass selbst der avantgardistischste Furor nicht leugnen kann, auf den „Schultern von Riesen“ zu stehen).
Anders Andrea Breth: sie sucht den gewöhnlichen Zugang. Aber sie dringt, während sie sich mit einer Vorlage, einem Text auseinandersetzt, mit einer derartigen Unerbittlichkeit auf ihrem Weg vor, dass das, was sie herausfindet und zur Grundlage ihrer Inszenierung macht, in viel höherem Maße als ungewöhnlich erscheint als alle modische Ungewöhnlichkeitsattitüde feuilletonistisch konstruierter oder selbsternannter Genies. Auch ergibt sich aus ihrer Tiefenbohrung hinein in den Text, dem sie, so scheint es, sich anheimgibt, von dem sie sich überschwemmen lässt, in den sie sich verliert, ehe sie dem Chaos, das sie so selbst erzeugt hat, eine große Form abringt, eine Souveränität gestalterischer Möglichkeiten, die sie sodann in akribischer-ernsthafter Arbeit mit dem Ensemble entfaltet. Ein Glücksfall also im Grunde für ein Koltès-Stück, das sich modischem Zugriff durchaus entzieht und Leichtfertigkeiten nicht aushält. Und ‹Quai West› am Burgtheater ist ein brillanter Theaterabend, zumindest in allen Details. So gesehen ist die Kritik, die ein „Scheitern auf hohem Niveau“ (Ronald Pohl im Standard) attestiert, zutiefst ungerecht.
Vielemehr scheint mir, sie habe mit der Aufführung am Burgtheater, einen Zwischenstand auf die Bühne gesetzt, auf dem Weg zur endgültigen Aufführung. Das indes ist wohl auch ein Problem dieser wunderbaren Regisseurin: dass sie auf ein Endgültiges, auf Perfektion aus zu sein scheint.
Das Ergebnis (Zwischenergebnis) an diesem Abend nun, diese Aufführung, wie sie nun ist, ist in allem abgeschliffen, will nichts offen lassen, ist letztlich in aller Feinheit glatt, bei aller Spiellust wie routiniert.
Auch die Bühne, dem gemäß, von Erich Wonder ist ein Bühnen-‚Bild‘, ein Kunstwerk für sich, schwarz, zerklüftet, und der Dreck und der Verfall werden nur in sie hineingeredet, sie ist sauber, und sie hält das Publikum auf Distanz. So befindet man sich immer im Plüsch des Burgtheaters, unbedroht, abgegrenzt (möglicherweise, sehr wahrscheinlich, braucht ‹Quai West› andere Räume als ein klassisches Guckkastentheater). Genauso die Kostüme – im Grunde elegant. Nichts ist dreckig und verloren in dieser Aufführung. Und nur der hervorragende Sound (Musik Wolfgang Mitterer, Sounddesign Alexander Nefzger) ist das, was dieses Stück, gelesen, für mich ist – eine magische Spur als Einkerbung in eine rohe und raue Wirklichkeit.
Harte Arbeit
Nun weiß ich wohl, dass am Theater immer alles Theater ist, gerade auch bei Koltès, der ja nicht etwa als poststrukturalistischer Dichter (wie Gerhard Stadlmaier in der FAZ wohl irrtümlich meint) zu verstehen ist, sondern die Gegenwart auf einer Traditionsspur erreicht, die sich von Racine herleitet (die Dialoge gegeneinander gesetzte Monologe, die Reden Gesänge, die flirren und glänzen, zugreifen; es muss nichts geschehen auf der Bühne, und doch ist alles Drama). Und alles in dieser Aufführung ist auch Stilisierung. Aber das Andere, das Komische, das, wie Ödön von Horváth festgestellt hat, aus dem Unheimlichen kommt, ist dem Stück in dieser Aufführung fast gänzlich ausgetrieben. Und es fehlt überhaupt das Hingeknallte, das Fetzige, Irrwitzige, vielleicht ja ein Schub, jetzt, nachdem alles durchgearbeitet und alle Tiefe ausgelotet, alle Brillanz im Detail gezeigt, dass dies alles ein tödlicher Witz, eine irre Groteske, vielleicht würde solches den Sog erzeugen, den dieses Stück hat, dass man sich aufs Hirn greift und lacht und sich fürchtet. Aber so sitzen wir, in der Pause schon und am Schluss auch, ermattet in den schönen Stühlen und wissen, wir haben gearbeitet, zwar nicht mitgearbeitet, dazu waren wir allzusehr auf Distanz gehalten, aber hart gearbeitet, um die Konzentrationseinbrüche zu übertauchen, die durch Gegenlicht gepeinigten Augen offenzuhalten, um zu sehen, was geschieht, und um zu verstehen, worum es geht. Aber harte Arbeit ist das, worauf Fußballmannschaften im Abstiegskampf zurückgeworfen sind, denen zuzusehen dann noch einmal harte Arbeit ist. ‹Quai West› ist kein Stück, dessen Aufführung dem Publikum harte Arbeit abverlangen sollte, vielmehr sollte, ich bin sicher, der Genuss verstören, und Erschöpfung sollte sein durch den Sog der Verführung, durch die Zumutung der Konfrontation, nicht Ermattung in der Distanz. Und: Koltès wollte eine bessere Beleuchtung seiner Stücke, und ich bin seiner Meinung, dass ‹Quai West› (wobei gegen die anfängliche völlige Dunkelheit damit nichts gesagt sein soll) eine bessere Beleuchtung braucht.
Eleganz – Sprachwelten – Gekonntes
Nicholas Ofczarek spielt den Fak mit der Eleganz einer hungrigen Großkatze, gefährlich-sanft, verspielt-aggressiv, ein hoch präziser Körper, eine Waffe – warum er indes sich eine norddeutsche Sprachfärbung zulegt (die er allerdings, naturgemäß, besser ‚draufhat‘ als vermutlich jedweder tatsächliche Norddeutsche) ist unklar, insofern alle anderen Spieler in der je eigenen Sprachwelt sich aufhalten. Elisabeth Orth zum Beispiel, die Cécile, diese indianische Hexe, bösartig-selbstbezogene Mutter, diese Göttin im Dreck, zwischen Klage und Keifen, fern von Larmoyanz und Deklamation (und mitunter, anderswo, hat sie im Deklamieren sich durchaus schon verfangen), redet ihr feines Hochdeutsch, das bei aller lokalen Grundierung nie auch nur in die Nähe von Dialekt gerät (wiewohl Dialektanklänge natürlich eine Möglichkeit wären für dieses Stück, um Differenzen zu schärfen, etwa zwischen den Eindringlingen Koch und Monique und den ‚Eingeborenen‘ von Quai West), und es ist in den Varianten, Klängen, Rhythmen wunderschön.
Genauso schön das Reden von Andrea Clausen als Monique, scharf und gestochen, Angst und Zorn und Hilflosigkeit in gehetztem Geplapper, deren Lebenshunger hier im Dreck aus der gewohnten Biederkeit herausbricht, gierig, unersättlich, aber auch verloren hier, am falschen Ort, überhaupt verloren. Hans-Michael Rehberg als Rodolfe hat sich einen Gestus weitausholender Armbewegungen zugelegt (ähnlich einer, diesfalls hergezeigten, Čechovschen psychologischen Geste), ein alter Mann voller Empörung, das ist ganz stimmig, wenngleich er etwas abfällt, was aber am Stück liegen mag. Schwächer die Kinder von Cécile und Rodolfe, Philipp Hauß als Charles und Merle Wasmuth als Claire. Hauß wie ermattet, gedeckt, ein Zauderer, für mich, wenn Absicht, nicht einsichtig, die Unfähigkeit zum immer wieder angesagten Aus- und Aufbruch, zu dem er auch ansetzt, kommt vom Festgehalten-Werden, nicht von innen, das Großsprecherische ist zu zart, dass er von der Resignation schon angefressen, kann er nicht wissen. Merle Wasmuth, aber das ist auch schwierig für ein junge Schauspielerin, die so existentielle Ausweglosigkeiten wie Claire nicht kennt, liefert dieses gierige Erwachsen-werden-Wollen von Claire, gekonnt, gut durchgearbeitet, allzu brav ab. Maynard Eziashi spielt Abad, den Schwarzen, der nicht redet, einen dieser Koltès-Afrikaner, denen der Dichter etwas Mythisches zuschreibt, Rachegötter möglicherweise, die entscheiden, wer lebt und wer getötet wird, die den Tod aber auch als Heil und Erlösung bringen. In dieser Aufführung bleibt Abad schemenhaft, er erschießt Koch und Charles, aber er hat nichts Rätselhaftes, er redet nur nicht, und er hat keinerlei mythische Wucht und entscheidet nichts, es passiert einfach (aber vielleicht soll das ja genauso sein). Auch Sven-Eric Bechtolf liefert eine schön durchgearbeitete Gestaltung ab, was Gekonntes, nichts, wie soll ich sagen, Existentielles.
Aber alles in dieser Aufführung, die ganze Aufführung ist gekonnt; und fern, schön gearbeitet, Arbeit, im Detail brillant, ermüdende Brillanz. Ich sollte sie mir noch zweimal anschaun: einmal, um die Details noch genauer zu beobachten (und um die ersten Eindrücke eventuell auch zu revidieren, insofern mich durchaus irritiert, dass ich manch einhelliges Lob der Groß- und Kleinkritiker gar nicht nachvollziehen kann), und dann noch einmal mit dem Versuch, mich um Konzentration und Verstehen nicht zu kümmern, mich hineinfallen zu lassen und zu sehen was passiert. Überhaupt sollte, wer Arbeit nicht scheut und ausgeruht ist, sich diese Aufführung unbedingt ansehen: es ist, alles in allem, ein hochinteressanter Theaterabend.
- Besetzung/Team
- Sven-Eric Bechtolf (Maurice Koch), Andrea Clausen (Monique Pons), Elisabeth Orth (Cécile), Merle Wasmuth (Claire, ihre Tochter), Hans-Michael Rehberg (Rodolfe, Céciles Mann), Philipp Hauß (Charles, deren Sohn), Nicholas Ofczarek (Fak), Maynard Eziashi (Abad), Regie Andrea Breth, Bühne Erich Wonder, Kostüme Françoise Clavel, Licht Friedrich Rom, Musik Wolfgang Mitterer, Sounddesign Alexander Nefzger, Dramaturgie Plinio Bachmann
- Karten/Informationen
- Burgtheater