Stephan Kimmig verunstaltet Grillparzers „Jüdin von Toledo“ am Burgtheater zur Kenntlichkeit und bleibt so weit hinter den Möglichkeiten und der Modernität des Stücks zurück.
Frühe Aufführungen des Stück haben (so man den Berichten trauen kann), in durchaus antisemitischer und sexistischer Haltung, das Stück als Geschichte eines jungen Königs erzählt, der durch Verführung vom rechten Weg der Pflicht abkommt, durch den Tod der Verführerin aber zuletzt zu sich findet und reumütig, zum Mann geworden, zurückkehrt in den Schoß von Ehe und Macht – die Ermordung der jüdischen Verführerin als Menschenopfer.
Stephan Kimmig, erstaunlicherweise, schließt an diese Deutung an: zwar demonstriert er, dass er kein Antisemit ist, indem er alles, was zwar gar nicht antisemitisch ist, was aber vielleicht irgendjemand als antisemitisch vorkommen könnte, wegstreicht und so die Figur des Isak auf die eines netten, wenngleich ängstlichen älteren Herrn zurechtstutzt, obwohl er mit Martin Schwab einen Schauspieler hat, der die Erbärmlichkeit, die Gier, aber auch die Würde, die dieser Mann hat, ganz hervorragend spielen kann; aber er rückt gleichzeitig den König Alfonso (Peter Jordan) und seine Gattin Eleonore (Caroline Peters) in den Mittelpunkt, und die kleine Jüdin Rahel (Yohanna Schwertfeger) hat wenig Kontur, wenig Bedeutung.

Zwar immerhin stellt er Rahel als Opfer dar und nicht als bloßen Kollateralschaden der ‚Mann-‚ als ‚Menschwerdung‘ eines Königs, aber dies überdeutlich: sie muss auch noch vergewaltigt werden, vom Liebhaber, aber auch vom Freund des Liebhabers. Damit ist das Politikerpaar auch bei Kimmig zuletzt nicht im Recht und ein Paar ganz schlimmer Politikschweindln. Für Rahel, die Jüdin, die Titelfigur und die Figur, auf die sich die Bezeichnung ‚Trauerspiel‘ bezieht, interessiert er sich indes herzlich wenig.
Bei Grillparzer ist Rahel nicht nur ein Opfer: indem sie begehrt und begehrt wird, liebt und geliebt wird, gerät das Königreich aus den Fugen. Und der Mord an ihr ist keine private Verschwörung einer eifersüchtigen Gattin, sondern folgt der Logik der Machterhaltung und Disziplinierung dieses Königs, der aufgebrochen ist zu sich selbst und sich zuletzt fügt einer restriktiven Moral und Politik und zurückkehrt in seinen Kriegerkörper, um darin zu erstarren.

Stephan Kimmig und die liebe Gegenwart
Das Grundschema dieses Regisseurs ist, so scheints, jedwedes Stück in die Gegenwart zu versetzen (so geschehen inzwischen auch mit Gorkis ‹Kindern der Sonne›, hochgelobt, und Schnitzlers ‹Liebelei›, arg verrissen), und möglicherweise darf man vermuten, dass dies eine Voraussetzung ist, noch ehe er das Stück gelesen hat. Womit er sich, wenn dem tatsächlich so ist, selbstverständlich die Möglichkeit verbaut, sich dem Stücktext auszusetzen, in die Welt, die Welten, die ein Dichter entwirft, einzudringen, sich überraschen zu lassen, zu verirren, etwas zu erkennen, das er noch nicht gekannt hat. Hier hätte dann auch eine Dramaturgie, die ihren Namen verdient, ihre Aufgabe, etwa all die Ressourcen, die es zu diesem Dichter, zu diesem Stück gibt, durchzuarbeiten und dem Regisseur zu vermitteln, und wenn die Fülle des Materials zu überwältigend ist, was sie wohl ist, eine Expertenrunde einzuladen, nichts leichter als das hier, in Wien … aber halt! Das hieße ja, sich mit dem Stück auseinanderzusetzen, hieße, die Methoden der Alten, die Methoden der Steins, Breths, Bondys, Giesings zu übernehmen. Die Generation der Regisseure, der Kimmig angehört (der allerdings sein Handwerk der Schauspielerorganisation ganz hervorragend beherrscht), ist eine Generation von Besserwissern, die an Stücke mit einem Überlegenheisgestus herangehen und auf Brauchbarkeit für eigene Absichten untersuchen schon während der Lektüre.
Also Gegenwart, alles im totalen Jetzt, so, also, König und Königin, das ist also ein Politikerpaar, und er, der Alte, betrügt die Gattin mit einer kleinen geilen Jüdin, also da hätten wir die Clintons, das ist ja total das gleiche, hurra, und er soll in den Krieg ziehen, das hat der ja auch gemacht, Krieg, um von seiner Affäre abzulenken, und, ach, wo sind wir, in Wien, tatsächlich, da stecken wir ihnen so Austro-Plaketten an und, ja, genau, da ist doch diese rechtsradikale Partei, die mit dem Fremdenhass, passt, Heimat, das ist Spanien, und die Muslims, gegen die es im Krieg geht, das sind die Fremden, die kommern allerdings nicht wirklich vor, aber auch die Juden sind ja Fremde, da passt doch so irgendein Heimattext, das stellen wir an den Anfang …
Durch diesen bedingungslosen Transport in die Gegenwart sieht Kimmig sich auch gezwungen, im dritten Aufzug alles irgendwie neu zu erfinden: der König, hier ein Mann in der Midlife-Crisis, spielt mit der Geliebten ein Indianerspiel, quasi um seine Jugend wiederzufinden. Bei Grillparzer schnappt Rahel sich die Lanze des Königs, um damit ihr Sonnensegel zu stützen, zweckentfremdet den Schild als Spiegel und klagt, wie sehr er ihr Bild verzerrt, und setzt sich den Helm auf „für der Liebe Streit“: das Private ist das Politische, selbst im Naiven ist eine Haltung, im Selbstvergessenen definiert sich die andere Welt, die Rahel repräsentiert, einer Weiblichkeit, die gegen das Kriegerische steht, einer Sexualität, die nicht bloß Zweck und Gewalt ist und damit, wie gesagt, die spanische Ordnung radikal in Frage stellt.

Die sexuelle Obsession
Was nun völlig unverständlich ist und womit die Balance des Stücks, das Drama, die Tragödie, alles ruiniert ist, ist die Tatsache, dass Kimmig Rahel und Alfonso ihre Liebesgeschichte nicht gönnt: dass er die Leidenschaft in die Königsehe verlagert und ausgerechnet Garceran (Juergen Maurer) das obsessive Verlangen nach Rahel zuteilt, dass also Alfonso tatsächlich immerzu die Kontrolle hat, dass Eleonore um ihre Position nicht fürchten muss und der Mordauftrag nicht aus politschem Kalkül erfolgt. Klar, Bill Clinton, ein recht ausgelutschter Womanizer, hat sich für die Lewinski, die wohl recht unbedarfte, schwärmerische Praktikantin im Weißen Haus, nicht wirklich interessiert, und seine politischen Gegner haben versucht, ihn aufgrund dieser Affäre aus dem Präsidentenamt zu drängen, was ihnen allerdings, obwohl sie ihn der Lüge überführen konnten, nicht gelungen ist. Und vielleicht ist es interessant (aber ich glaub eher nicht), sich eine Hilary Clinton vorzustellen, die Monica Lewinski umbringen lässt aus Eifersucht und Rache. Aber das wäre ein völlig anderes Stück.
In diesem Stück, das Kimmig nicht inszeniert hat, ohne dies zu kennzeichnen, ist es wesentlich, dass Alfonso die Kontrolle über seine ‚Affäre‘ eben nicht hat, dass es, wenn er dauernd betont, wie problemlos er sich entziehen könnte, reines Geschwätz ist, dass es nicht Trotz ist, weshalb er sich das Medaillon mit Rahels Bild im vierten Aufzug, in der großen Auseinandersetzung mit Eleonore, wieder umhängt, sondern unausweichlich, dass die Zweckehe des Königspaars nichts ist als eine Zweckehe und Eleonore tatsächlich nicht an Sexualität interessiert ist und nicht eifersüchtig, und dass Alfonso erst in sich zusammensackt und sich den Gegebenheiten fügt, nachdem er die ermordete Rahel gesehen hat und nicht nur behauptet, sie gesehen zu haben, wie in dieser Aufführung.
Im Stück ist Alfonso ein ganz junger Mann, Eleonore eine junge Frau, der Sohn ein Kleinkind, und Rahel nicht wesentlich oder gar nicht jünger als das Königspaar, vor allem aber eine Frau, keine Lolita. Kimmig betont das Kindliche seiner Rahel, indem er Yohanna Schwerfeger fast nackt und so in all ihrer dünnen, mädchenhaft-zarten Körperlichkeit zeigt, rückt die sexuelle Beziehung von Alfonso und Rahel ins Perverse, insofern er den deutlich erwachsenen Alfonso mit nacktem Oberkörper über die kindhafte Rahel mit nacktem Unterkörper herfallen lässt.
Bei Grillparzer wird ein Geschlechtsakt natürlich nicht gezeigt. Zwar sagt sagt Rahel über Alfonso: „Der rauh selbst in der Zärtlichkeit Begegnung,/Der jedes milde Wort sogleich bereut/Und dessen Neigung ein verstecktes Hassen.“ Aber dies beschreibt die Verwirrtheit eines jungen Mannes, der sich gegen den Kontrollverlust sträubt und lässt sich nicht verdeutlichen oder überhaupt zeigen, indem ein erwachsener Mann über ein halbes Kind schnell einmal so drüberfährt, auch heute nicht, zumal ja auch heute ein Geschlechtsakt auf dem Theater sich nicht tatsächlich zeigen lässt. Aber Sexualität hat in Kimmigs protestantisch-moralingesäuerter Sicht wenig Chance, irgend positiv bewertet zu werden. Ein Missverständnis, besser Unverständnis: die sexuelle Obsession, gepaart damit, dass das Objekt seiner Begierde eine Frau ist, die die ganze Fülle der Liebe und des Lebens für ihn bereithält, ist die Möglichkeit dieses jungen Mannes, zu sich und also zur eigenen Lebensfülle zu kommen. Sein Pech ist, dass er ein König ist.

Verzicht
Alfonso ist ein König, dessen Status und Macht von den Ständen abhängig ist, heißt von Adel und Kirche. Von einem absolutistischen Königtum kann keine Rede sein. Gleichzeitig wird im ersten Aufzug ausführlich dargelegt, dass Alfonso ohne große Sympathien im Volk, also bei den einfachen Leuten, nicht König geworden wäre. Eleonore setzt sich also gleichsam an die Spitze eines Adelsaufstands, um einen solchen zu verhindern. Und sie muss fürchten, dass Alfonso sich tatsächlich, wie er plant, sich an die Spitze des Volkes setzt für seine Bestrafungsaktion gegen die Mörder Rahels.
Kimmig verzichtet auf die Versammlung der Stände, die den Mord an der Geliebten des Königs beschließt. Er setzt die private Verschwörung Eleonores mit Manrike (Bernd Birkhahn) an den Stückanfang, womit er sein Interesse, gegen das Stück, festlegt (und tatsächlich nimmt daran auch der Sohn, hier zwar kein Kleinkind, aber etwa zwölf Jahre alt, teil, nachplappernd, was die Mutter sagt; was mir völlig unverständlich ist und als absolut lächerlich erscheint).
Kimmig verzichtet überhaupt auf die politische Dimension des Stücks. Er streicht aber auch den Hofstaat und die Donja-Clara-Geschichte Garcerans, und niemand, der das Stück nicht kennt, kann irgend verstehen, worum es bei dem Konflikt zwischen Garceran und seinem Vater Manrike gehen könnte. Dafür lässt er Garceran und Manrike lustig raufen und den alten Mann dabei ausführlich über den Boden kugeln, was völlig absurd ist. Er verzichtet auch, gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Katja Haß, auf eine deutliche Differenzierung der Schauplätze, und so ist da immer als Grundraum ein Gerichtssaal. Er verzichtet nicht nur auf viel Text (geschätzt ein Drittel des Textes ist gestrichen), sondern im Grunde auf das Stück als Drama, als Entwurf von Welten, die aufeinanderprallen, auf die Tragödie. Politiker sind verlogen und schlechte Menschen, sexuelle Freizügigkeit ist sehr gefährlich, Liebe und Leidenschaft kann zum Eifersuchtsmord führen, kleine geile Mädchen sind Opfer und werden vergewaltigt. Je nun …

(Alle Fotos © Wolfgang Palka)
Schauspielkunst verschwendet
Jemand hätte Stephan Kimmig mitteilen können, dass Grillparzers „Jüdin von Toledo“ ein Meisterwerk ist. Die Dramaturgin (Barbara Sommer) war nicht dazu imstande, aber vermutlich war sie allzusehr damit beschäftigt, die Reden von Jörg Haider über Heimat und Fremde zu durchsuchen.
Die hohe Schauspielkunst der Schauspielerinnen und Schauspieler der Produktion jedenfalls ist verschwendet an dieses konzeptionelle Machwerk. Wobei, wie gesagt, dieser Regisseur sein Handwerk, mit seinen Spielern eine intensive Reise zu organisieren, ausnehmend gut beherrscht. Schade drum.
Mit seiner Gier nach Modernität hat er die Modernität des Stücks weit verfehlt, mit Aktualisierung die Aktualität vernichtet. Es ist schwierig, das versteht man durchaus: Regisseur ist ein freier Beruf, und wer in den Feuilletons nicht als Genie gilt, muss fürchten, bald nicht mehr arbeiten zu dürfen. Diesfalls wäre Kimmig besser bei genauem Handwerk geblieben: genial oder auch nur interessant ist nichts.
Nun hat man natürlich, wenn man das Stück kennt und besonders schätzt, wie ich, wohl Vorstellungen von dessen Realisierung, die an Vorurteile grenzen. Aber ich bin in diese Aufführung gegangen, wie in alle Aufführungen, mit der allerbesten Absicht, mich darauf, komme was da wolle, einzulassen. Danach verbittert. Vor allem deswegen, weil dieses Stück, das seit über zwanzig Jahren in Wien nicht zu sehen war, ziemlich leichtfertig und überheblich in die Erd’ gefahren worden ist. Und das kränkt mich.
- Besetzung/Team
- Mit Bernd Birkhahn, Peter Jordan, Katharina Lorenz, Bernhard Mendel, Juergen Maurer, Caroline Peters, Martin Schwab, Yohanna Schwertfeger. Regie Stephan Kimmig, Bühne Katja Haß, Kostüme Anja Rabes, Musik Michael Verhovec, Licht Friedrich Rom, Dramaturgie Barbara Sommer.
- Vorstellungen
- Premiere 11. September 2010, im Juni 2012 nicht am Spielplan Burgtheater
Fotos © Wolfgang Palka