Traditionsspuren. Grillparzer, Nestroy & Co: Beitrag im Buch „Der eigene Blick. Das Volkstheater Wien 1988–2005“
Theater ist immer und in erster Linie Lokaltheater. Selbst Festspiele, wenn sich die Funktion als Modenschau verbraucht, suchen nach dem je Eigenen. Das Kunstwerk Theater, egal aus welcher künstlerischen Vision geboren, entsteht erst im Augenblick der Aufführung im Kommunikationsprozess mit einem koproduzierenden Publikum. So gesehen, bei aller Notwendigkeit, das bloß Affirmative zu überwinden, über die Wiederholung des immer Gleichen hinauszukommen, selbst mit alten Stücken die Gegenwart zu erreichen und zu befragen, ist das Vertraute Ausgangspunkt aller Möglichkeiten: Weltbeobachtung als wesentliche Funktion von Kunst also auch Beobachtung von Innenwelten, die auf den Traditionsspuren, die einem Wiener Theater zur Verfügung stehen, einen großen Reichtum an Entwürfen, Geschichten, Schicksalen und Themen ergibt.
Das Volkstheater hat nun seit 1988 diesen Reichtum in besonders hohem Maße wahrgenommen und nahezu verschwenderisch genutzt.

Dabei ist ja mitunter die Frage der Zurechnung, wer ein österreichischer Dramatiker sei, nicht einfach zu beantworten. Denn man will ja nicht die kulturkolonialistische deutsche Attitüde imitieren, die alles, was deutsch schreibt, der Bundesrepublik einverleibt im Namen eines Führungsanspruchs innerhalb einer nur vage abgrenzbaren „Deutschen Kultur“ (die ja mitunter ganz selbstverständlich aufs Mittelalter und das Heilige römische Reich deutscher Nation zurückzugreifen beliebt); aber auch die bei uns übliche Methode, das heutige Österreich als Nachfolgestaat bei Bedarf kultureller Verknüpfung nicht nur des deutschsprachigen Teils, sondern des Habsburgerreichs insgesamt zu sehen, ist problematisch gerade im Zusammenhang mit dem historisch fatalen Hegemonialanspruch der Deutschösterreicher innerhalb der Donaumonarchie. Man behilft sich gern mit einer Vorsilbe und subsumiert die Zweifelsfälle als deutschschreibende Alt-Österreicher und weiß im übrigen, dass es im Schmelztiegel Wien des 19. Jahrhunderts und der vorletzten Jahrhundertwende auf Nationalitäten, zumindest was die Kunst und das Theater betrifft, nicht ankam. Und dass es überhaupt, wie gesagt, um das Vertraute geht, um Traditionsspuren, ein Wiedererkennen, den Spiegel aus der Vergangenheit, der die Gegenwart in Frage stellt, in zeitlicher Distanz sehr nah.
So ist etwa Ödön von Horváth (13 Produktionen, darunter „Figaro lässt sich scheiden“, 1989/90, „Die italienische Nacht“, 1991/92, „Zur schönen Aussicht“, 1994/95, „Eine Unbekannte aus der Seine“, 1997/98, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, 1997/98, „Don Juan kommt aus dem Krieg“, 2002/03), der zwar (als Sohn ungarischer Diplomaten in Kroatien geboren) in Berlin seine größten Erfolge gefeiert, lange Zeit im bayrischen Murnau gelebt hat und dessen Werke nach seiner Flucht vor den Nazis 1933 nach Wien hier in einer beispiellosen Presse-Kampagne bis zur Existenz-Vernichtung boykottiert wurden, dennoch ein in österreichischer (Volkstheater-)Tradition erkennbarer Dramatiker. Der indes auch ebenso als bayrischer Dichter zu gelten hat und dessen brillante, mythisch-politischen Volksstücke im gesamten süddeutschen Raum die Möglichkeiten sozialkritisch-politischer Dramatik nach 1945 stark beeinflusst haben: bei Franz Xaver Kroetz, Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder sowie Peter Turrini, Felix Mitterer, Gustav Ernst, etc.
Anders Franz Grillparzer (9 Produktionen, darunter „Die Jüdin von Toledo“, 1989/90, „Libussa“, 1990/91, „Ein treuer Diener seines Herrn“, 1994/95, „Des Meeres und der Liebe Wellen“, 2003/04), geboren in Wien 1791 und hier gestorben 1872: Als Gegner jedweden Nationalismus war ihm ein auf Nation ausgedehnter Heimatbegriff völlig fremd, als „Niederösterreicher und Wiener“ donaumonarchische Verwandtschaften, mit Böhmen zum Beispiel, selbstverständlich, während ihm Preußen Ausland war. Verfechter der Idee des Vielvölkerstaates, dessen Zerbrechen an Nationalitätsstreitigkeiten er hellsichtig prognostizierte, machte ihn der Zustand des Habsburger Kaiserhauses krank und wütend (seine vermeintlich apologetischen Habsburger-Stücke sind durchaus in der Tradition von „Fürstenspiegeln“ zu lesen). Andererseits, seines Ranges und seiner Eigenständigkeit gewiss, ein „Dichter des Übergangs“, bezog er sich gleichermaßen auf die deutschen Klassiker Schiller und Goethe, wie er sich von ihnen abgrenzte. Aber er war auch ein großer Bewunderer Ferdinand Raimunds, und der Einfluss der Altwiener Volkskomödie auf sein Werk ist deutlich („Der Traum ein Leben“). Diesem Wiener Dramatiker, Franz Grillparzer, der von Lord Byron und Friedrich Nietzsche zurecht als Welttheater-Dichter bewundert wurde, passierte nun nicht nur, dass eine deutsche Germanistik um die vorletzte Jahrhundertwende ihn, in stammmesgeschichtlicher Schematik, in Bezug auf die deutsche Dramatik des 19. Jahrhunderts als zweitrangig und gänzlich österreichisch-barocken Traditionen zugehörig bezeichnete, sondern er wurde schon von Heinrich Laube, kurz nach seinem Tod, vehement aber vor allem nach 1918 zum „österreichischen Nationaldichter“ stilisiert. Nun wäre daran wenig auszusetzen, wenn dies, wie etwa beim englischen Nationaldichter Shakespeare, die Lebendigkeit der Auseinandersetzung nicht behindert hätte. So erinnert man sich aber an schulische „Tage der Fahne“ (die am 26. Oktober gefeiert wurden, ehe dieser zum Nationalfeiertag wurde) mit Grillparzers „Rede über Österreich“ (die ja Rollen-Rede aus dem Ottokar ist und also nur irrtümlich mit des Dichters Meinung von Österreich gleichzusetzen) und an ein im Deutschunterricht erfahrenes Bild dieses Dichters als „alter Hofrat“, der langwierig-langweilige Staatsdramen geschrieben und sich vor der Ehe gefürchtet haben muss. Mein Glück, dass der erste Theaterbesuch meines Lebens mich gleich in eine inzwischen legendäre Aufführung von „Weh dem, der lügt!“ führte, die mein kindliches Gemüt tief beeindruckte und mich nicht nur mit einem unheilbaren Theater-Virus infizierte, sondern auch den Zweifel in mir anlegte, ein alter Hofrat sei imstande, solche spannenden Stücke zu schreiben. – Nun ging es allerdings, als wir 1989 mit unserem Abenteuer mit Grillparzer am Volkstheater begannen, nicht mehr darum, ein völlig falsches Grillparzer-Bild zu revidieren, was die Literatur- und Theaterwissenschaft längst erledigt hatte und auch immer wieder einmal in Aufführungen erkennbar wurde. Aber es ging darum, die Modernität dieses Werkes, seine Nähe und Lebendigkeit als gleichzeitig Kostbarkeit und Selbstverständlichkeit zu zeigen. Dabei stellte sich heraus, dass für die „Mission“, das distanzierte Verhältnis der Österreicher zu ihrem Nationaldichter aufzulösen, doch noch einiges zu tun war, als plötzlich Aufführungen gegen den Dichter gelobt wurden, denn bei aller Schwierigkeit der Auseinandersetzung mit diesem hochkomplexen Werk: um seine „Verstaubtheit“, wie lobend angemerkt, mussten wir uns nicht kümmern: bei diesen Geschichten von sozialen Konflikten, dunklen und anderen Leidenschaften, von Vernunft und Gefühl, vom Zusammenprall der Kulturen und Zeiten, von verzweifelter Treue, tobendem Größenwahn, lächerlich-komischer Anmaßung etc., bei diesem aufregenden Werk eines großen Dichters, dessen Sprache, alles andere als vertrackt, wenn man sich drauf einlässt, einen wunderbaren Glanz entfaltet.
Nun ist einer der drei Steinköpfe über dem Haupteingang des Volkstheaters der von Franz Grillparzer und bildet mit den beiden anderen, Raimund und Nestroy, das Trio „unserer Klassiker“. Dass dabei der Volkstheater-Begriff weit gefasst ist, versteht sich: nicht nur Geschichten von einfachen Leuten für einfache Leute in einer Volksstück-Tradition, ohne diese zu missachten, und schon gar nicht was irgend Volkstümliches, das etwa eine heile Welt der Gemütlichkeit in die Wirklichkeit hineintäuscht, sondern Theater-Kunst, die ihren Kunstanspruch über Weltbeobachtung und Kulturentwicklung prozessiert: Theater also, das einen Unterschied machen will, nicht im Elfenbeinturm, sondern in der wirklichen Welt, nicht als Mode, sondern mit einem klaren und unkorrumpierbaren Blick, uneitel, direkt, auf Auseinandersetzung aus, die durchaus auch vergnüglich-komisch sein darf, aber nie belehrend, Theater, das auf dem Wege der Kommunikation Erkenntnis sucht.
Unsere Klassiker der Komödie also Ferdinand Raimund (4 Produktionen, „Der Verschwender“, 1989/90; „Der Diamant des Geisterkönigs“, 1993/94; „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“, 1995/96; „Der Bauer als Millionär“, 2003/04)) und Johann Nestroy (16 Produktionen, darunter „Das Haus der Temperamente“, 1989/90, „Einen Jux will er sich machen“, 1992/93; „Unverhofft“, 1994/95; „Freiheit in Krähwinkel“, 1995/96; „Der Zerrissene“, 1996/97; „Nur keck“, 1997/98; „Das Mädl aus der Vorstadt“, 1998/99; „Lumpazivagabundus“, 1999/2000; „Der Talisman“, 1990/91 und 2001/02). Aufführungen von ihren Stücken haben eine lange Tradition am Wiener Volkstheater; daran galt es anzuknüpfen; eine neue Generation von Nestroy- und Raimund-Spielern mit den „lebenden Legenden“ Wiener Volkskömodien-Brillanz in Beziehung zu setzen und diesbezüglich ein Ensemble zu bilden, das die Tradition erfüllt und in die Gegenwart weiterentwickelt, was heißt, den Anspruch der „Neudeutung“ in einem größeren Zusammenhang von Kontinuität einzubetten; immer aber, bei den durchwegs Publikumsstücken dieser Dichter, in einem Publikumsbezug, der das Bedürfnis nach Wiedererkennbarkeit ernst nimmt, ohne auf das Risiko gegenwärtiger Auseinandersetzung, auf das Theater, wenn es lebendig bleiben will, angewiesen ist, zu verzichten.

Dabei, bei diesen „Klassikern“, – und noch unerbittlicher als überhaupt – werden in dieser Stadt immerzu Sternstunden erwartet, der Schauspiel-, Regie- und Ausstattungskunst gleichermaßen, wobei selbstverständlich jede/r seinen/ihren Nestroy oder Raimund durch Aufführungen uneinlösbar im Kopf hat. Wobei das Wiener Publikum sich seit jeher auf spannendes Theater einzulassen pflegt und nur böse wird, wenn es der einzigen Sünde des Theaters ausgeliefert wird, nämlich der, gelangweilt zu werden. Professionelle Zuschauer indes neigen dazu, alles, was nicht als „Event“ sich beschreiben lässt, gering zu schätzen. Sich davon nicht anstecken zu lassen, ist schwierig. Notwendig andererseits, denn „Events“ sind Ausgeburten der Spaßgesellschaft, die sich mit Getöse begnügt, von dem nichts bleibt. Sternstunden des Theaters sind oft leise, durchaus nicht machbar, ereignen sich wie magisch immer nur im Loslassen des Bedeutenden und der auf Wirkung berechneten Fertigkeit, nach getaner Arbeit, dann unvermittelt. An solche Momente erinnert man sich lang und deutlich, und sie wirken nachdrücklich, unwiederholbar, als Bereicherung in die Welt. Sie sind nicht dokumentierbar (so auch in Fernsehaufzeichnungen nur vage erkennbar), im Tagesgeschäft von Theaterkritik (so wichtig und bereichernd diese auch sein mag) nur selten auszumachen. Theater, wie die Liebe, ist immer pompöse Gegenwart, in seiner Tiefenwirkung unvergleichlich und ungreifbar und überlebt seit jeher immerzu die eigene Modernisierung.
In der Tradition Nestroys nun Jura Soyfer (4 Produktionen, darunter „Der Lechner Edi schaut ins Paradies“ 1993/94; „Der Weltuntergang“, 1996/97), eines von vermutlich vielen Talenten seiner Generation, die von den Nazis ermordet wurden, dessen Frühwerk (als Gesamtwerk) jedoch zu unserem Glück weit über Talent hinausreicht.
In der Tradition Nestroys aber vor allem Helmut Qualtinger, der zu unseren „Klassikern“ deshalb auch zu zählen ist, weil der „Herr Karl“ ein klassisches Werk österreichischer Theaterkunst ist und weil er die Form des „Dramoletts“, auf den Traditionsspuren Nestroys und des Kabaretts, zu gänzlich eigenständiger Meisterschaft entwickelt hat. Eine besondere Nähe zum Werk dieses Theaterdichters ist selbstverständlich auch daraus herzuleiten, dass er bekanntlich als Schauspieler am Volkstheater viele Jahre große Rollen gespielt hat (einen legendären Titus Feuerfuchs zum Beispiel).
In der puren Volksstück-Tradition der Mitgründer des Volkstheaters Ludwig Anzengruber („Der Gwissenswurm“, 1999/2000) und Karl Schönherr („Glaube und Heimat“, 1988/89; „Der Weibsteufel“, 1993/94); das für ein städtisches Publikum totgesagte Genre kraftvoll und lebendig. Was sich auch insofern daran erkennen lässt, dass Felix Mitterer („In der Löwengrube“) auf genau dieser Traditionsspur eine zeitgenössische Unmittelbarkeit zu entfalten imstande ist.
Zu nennen sind, von der kulturellen Hochblüte Wiens der vorletzten Jahrhundertwende und dem Beginn des 20. Jahrhunderts, Hermann Bahr („Das Konzert“, 2003/04), Hermann Broch („Die Erzählung der Magd Zerline“, 2001/02), Fritz Hochwälder (4 Produktionen, darunter „Der öffentliche Ankläger“, 1989/90; „Der Unschuldige“, 1995/96), Franz Werfel („Die Troerinnen nach Euripides“, 1995/96), Ferdinand Bruckner („Elisabeth von England“, 2003/04).
Aber vor allem Arthur Schnitzler (mit „Anatol“, 1996/97; „Der einsame Weg“, 1996/97; „Liebe. 4 Komödien“, 2001/02), dessen unerbittlicher Blick auf die versunkene Welt der Donaumonarchie Szenen von erschreckender Modernität, die unsere Gegenwart grell zu beleuchten imstande sind, hervorgebracht hat: ein Klassiker des Volkstheaters, ein Wiener Lokal-Dramatiker, ein Meister des Welttheaters aus Wien.

Zuletzt Franz Kafka („Amerika“, 2003/04), einer der meistgespielten Theaterdichter deutscher Sprache, der nie fürs Theater geschrieben hat. Seine hochdramatische Prosa scheint nach Realisierung auf dem Theater zu schreien, entzieht sich jedoch gleichzeitig in ihrer Hermetik dem allzu forschen Theater-Zugriff. Dennoch ist zum Beispiel (und vor allem) „Amerika“ (eigentlich „Der Verschollene“) ein nahezu fixer Bestandtteil des klassischen österreichischen Theaterkanons.